Folgen des Wahlchaos in Berlin: Zurück an die Urnen
Die Bundestagswahl in Berlin soll teilweise wiederholt werden. Darauf hat sich die Ampel geeinigt. Die endgültige Entscheidung fällt im Oktober.
Der Vorstoß der Koalition kam überraschend – eigentlich war nicht mehr mit einer Einigung vor der Sommerpause gerechnet worden –, und er bleibt deutlich hinter den Empfehlungen des Bundeswahlleiters zurück. Dieser hatte nach einer Anhörung im Mai eine Wiederholung der Bundestagswahl in sechs der zwölf Wahlkreise gefordert, also in etwa 1.200 Wahllokalen. Der Ampel-Vorstoß unterscheidet sich zudem dadurch, dass offenbar Wahllokale in allen zwölf Wahlkreisen betroffen sind.
Am 26. September durften die Berliner*innen gleich vier Mal abstimmen. Die Wahlen zum Bundestag, zum Berliner Abgeordnetenhaus, zu den zwölf Bezirksparlamenten sowie die Abstimmung über den Volksentscheid Deutsche Wohnen und Co. enteignen fanden parallel statt – unter Pandemiebedingungen und zeitgleich mit dem Berlin-Marathon in der Innenstadt mit zehntausenden Teilnehmer*innen und noch mehr Zuschauer*innen.
In der Folge kam es zu zahlreichen Pannen: Stimmzettel wurden fehlerhaft ausgeliefert oder gingen aus; vielfach bildeten sich lange Schlangen vor den Wahllokalen mit Wartezeiten von bis zu zwei Stunden; auch lange nach 18 Uhr wurden noch Stimmen abgegeben.
Daniela Ludwig, CSU
Erst am Mittwoch hatte eine vom Senat eingesetzte Expert*innenkommission der Berliner Politik schwere Vorwürfe gemacht: Die Komplexität der Vierfachwahl sei komplett unterschätzt worden, ein Wirrwarr von Kompetenzen zwischen Land und Bezirken habe zu folgenschweren Fehleinschätzungen geführt, der damalige Innen- und heutige Bausenator Andreas Geisel (SPD) trage ein Mitschuld an dem Debakel.
Die Vorsitzende des Wahlprüfungsausschusses des Bundestag hält angesichts dieser vielen Pannen die Pläne der Ampel-Obleute auch nicht für ausreichend. Vielmehr versuche die rot-grün-gelbe Koalition im Bund, das Wahldebakel kleinzureden, sagte Daniela Ludwig der taz. „Es muss, wie vom Bundeswahlleiter gefordert, in über 1.200 Wahllokalen noch mal gewählt werden. Alles andere ist ein mutloser minimalinvasiver Eingriff, der das Vertrauen in demokratische Institutionen noch weiter erschüttert.“
Eine endgültige Entscheidung über eine partielle Wahlwiederholung ist in der Ausschussitzung am Donnerstag noch nicht gefallen: Die muss der Bundestag mit Mehrheit treffen. Laut Ludwig soll sich der Ausschuss Anfang September noch mal mit der Thematik beschäftigen, im Oktober könnte das Plenum dann darüber abstimmen.
Noch keine Entscheidung über die Abgeordnetenhauswahl
Nicht betroffen von der Entscheidung im Bund ist eine eventuelle, zumindest teilweise Wiederholung der Wahl zum Abgeordnetenhaus. Über zahlreiche Einsprüche gegen deren Ergebnis muss der Berliner Verfassungsgerichtshof entscheiden. Die Verhandlung darüber ist für Ende September angesetzt, eine Entscheidung dürfte also bis Ende des Jahres fallen.
Bei der amtierenden Berliner Landeswahlleiterin Ulrike Rockmann zeigte man sich am Freitag ebenfalls überrascht von dem Vorstoß der Ampel-Koalition. Doch Rockmann hält eine teilweise Wiederholung der Bundestagswahl weiterhin für unnötig. Die zentrale Frage bleibe, ob die Pannen bei der Wahl im vergangenen September Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Bundestags gehabt hätten, sagte sie am Freitag der Deutschen Presse-Agentur. „Ich bleibe bei meiner Einschätzung, dass ich nicht die empirische Grundlage für eine Wahlwiederholung sehe.“ Rockmann hatte diese Position schon Ende Mai bei einer Anhörung des Wahlprüfungsausschusses des Bundestags vertreten.
Zudem hofft man im Hause Rockmann man auf baldige Verstärkung: Nach dem Rücktritt von Landeswahlleiterin Petra Michaelis kurz nach den Wahlen aufgrund der vielen Pannen führt Rockmann das Amt nur so lange, bis eine Nachfolgerin benannt ist. Wann das passiert, ist unklar – in Rockmanns Büro hofft man auf eine „baldige“ Entscheidung und Verstärkung.
Das wäre auch sinnvoll, schließlich ist mit dem Ampel-Vorstoß absehbar, dass in Berlin früher als bisher wieder Wahlen stattfinden. Die nächsten planmäßigen Wahlen wären die zum Europaparlament im Frühjahr 2024.
Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) wollte sich am Freitag nicht zu dem Thema äußern. „Wir kommentieren das nicht“, teilte eine Sprecherin der Senatskanzlei auf Anfrage der dpa mit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Aufregung um Star des FC Liverpool
Ene, mene, Ökumene