Folgen der Inflation: Eine Plastiktüte voll Rechnungen
Brot, Gas, Socken, alles ist teurer geworden. Was heißt das für Menschen, die sowieso schon wenig haben? Ein Tag in der Sozialberatung in Senftenberg.
A ls Nicole Müller das erste Mal zu Volker Hänneschen kam, hatte sie eine Plastiktüte voll Briefe in der Hand. Darin waren sehr viele Rechnungen. Bestimmt 300 Stück. Es gibt Menschen, die öffnen keine Briefe mehr. Volker Hänneschen fragt dann nicht nach den Gründen. Die wird es schon geben, denkt er sich. Seine Aufgabe ist, die Briefe der Leute zu öffnen.
Die Plastiktüte von Nicole Müller hat Hänneschen in eine Excel-Tabelle übersetzt. Sie hat 108 Positionen. „Stromanbieter 188,20 Euro“, steht da. Oder: „Telefonrechnung 1.001,30 Euro“. Die Tabelle geht über sechs Seiten, sie versammelt unbezahlte Rechnungen aus zwei Jahrzehnten. Am Ende, unter dem Strich, steht die Gesamtverschuldung von Nicole Müller. 105.760,25 Euro.
Volker Hänneschen ist Sozialarbeiter. Er arbeitet in der Sozialberatungsstelle der Caritas im brandenburgischen Senftenberg. Seit 30 Jahren kommen Menschen zu ihm, die Hilfe brauchen. Mit Rechnungen, mit Anträgen, mit Steuern, mit Behörden. Gerade werden es immer mehr.
So eine Krise wie diese habe er noch nie erlebt, sagt Volker Hänneschen. Noch nie in den vergangenen drei Jahrzehnten habe sich die Armut so weit hoch in die Mittelschicht gefressen. Früher kamen zu Volker Hänneschen hauptsächlich Menschen wie Nicole Müller. Menschen, die keine Rechnungen mehr bezahlen können. Seit Beginn des Krieges kommen auch Menschen mit stabilen Einkommen, mit sicherer Rente oder auch solche, denen die Hilfe vom Amt eigentlich immer gereicht hat, erzählt er. Weil es jetzt eben nicht mehr reicht.
Die Inflation in Deutschland ist so hoch wie seit 1951 nicht mehr. 2022 kostete die Energie 34,7 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Die Nahrungsmittelpreise sind 2022 um 13,4 Prozent gestiegen.
Für Menschen an der Armutsgrenze kann das den finanziellen Ruin bedeuten. Laut einer Befragung der Hans-Böckler-Stiftung leiden die Haushalte am meisten unter der Inflation, die ein Einkommen von weniger als 1.500 Euro netto haben. Rund die Hälfte dieser Menschen berichtet von einer starken finanziellen Belastung.
Wie gehen arme Menschen damit um, dass sie jetzt noch weniger haben als vor der Inflation?
Senftenberg ist eine Kleinstadt in Brandenburg. Etwa 23.000 Menschen wohnen hier, 40 Kilometer von Cottbus entfernt, in der Lausitz. Früher wurde im Tagebau Kohle abgebaggert. Mitte der 90er Jahre verschwand der Bergbau. Die Region galt als strukturschwach, es gab kaum noch Jobs. Aber die Lausitz hat sich davon erholt, ein bisschen zumindest. Heute sind die leeren Kohlegruben mit Wasser gefüllt. Die Lausitzer Seenlandschaft zieht Touristen an, knapp 700.000 Übernachtungen gab es 2021. Trotzdem hat ein Haushalt hier im Schnitt nur 20.790 Euro im Jahr zum Leben. Damit gehört der Landkreis Oberspreewald-Lausitz immer noch zu den ärmsten in Brandenburg.
Alle Namen in diesem Text – bis auf den von Volker Hänneschen – wurden geändert. Wer sich an die Beratungsstelle der Caritas wendet, soll anonym bleiben können. Der Reporter musste vor dem Termin versichern, keine echten Namen von Hilfesuchenden im Text zu verwenden. Die sind der taz aber bekannt.
An diesem Januartag bietet Volker Hänneschen eine offene Sprechstunde an. Das heißt, jeder Mensch, der ein Problem hat, kann kommen. Es ist ein kalter Morgen. Gerade hat es noch gehagelt, aber jetzt scheint die Sonne. Im Warteraum der Beratungsstelle der Caritas sitzt bereits ein Pärchen. Der Raum ist lachsrosa gestrichen. Ein paar Stühle stehen hier, in der Ecke ein Tisch. Darauf liegen Legosteine. Die beiden warten seit 9 Uhr morgens, sie wollen pünktlich sein, denn das mögen die Deutschen. So hat man es ihnen auf dem Sozialamt gesagt. Er heißt Hassan Khalid, sie Djamila Khalid. Beide tragen Pudelmützen mit kleinen Bommeln auf dem Kopf. Djamila ist schwanger, im siebten Monat.
Volker Hänneschen bittet die beiden in sein Büro. Sie setzen sich und fangen an zu erzählen. Sein Gehalt reicht zum Leben nicht aus. Er verdient netto 700 Euro bei einem Lieferdienst. Dann erhielten sie die Gasrechnungen. Dann wurde im Supermarkt alles teurer. Djamila bekam Angst, dass das Geld ausgeht, wenn das Baby da ist. „Wie sollen wir das bezahlen, wenn die Preise weiter so steigen?“, habe sie irgendwann ihren Mann gefragt.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Eine Freundin erzählte ihr von „Anträgen“. Zettel, die man in Deutschland zum Amt bringt. Wenn man diese Anträge abgibt, dann kriegt man vielleicht Geld. Volker Hänneschen nickt. „Das machen wir. Wir stellen jetzt ganz viele Anträge.“ Er tippt auf seinem Computer.
Sehr geehrte Damen und Herren.
„So beginnen heutzutage alle Märchen“, sagt Hänneschen. Er tippt weiter.
Ich erwarte am 23. April mein Kind. Deshalb beantrage ich Mehrbedarf für Schwangerschaft.
Er verteilt die Überschriften über die Anträge.
Antrag auf Mehrbedarf wegen Schwangerschaft
Antrag auf Mehrbedarf wegen Umstandskleidung
Antrag auf Mehrbedarf wegen Babyausstattung
Volker Hänneschen druckt die Zettel aus. Djamila unterschreibt sie.
Viele Menschen wissen nicht, was es alles für Anträge gibt. Woher auch, im Antragsland Deutschland. Das Kreissozialamt schickt sie dann zu Beratern wie Volker Hänneschen. Er weiß, wem wo und vor allem wie geholfen werden kann. „Kommen Sie wieder, wenn das Baby da ist. Dann stellen wir noch mehr Anträge.“ Die beiden nicken und bedanken sich.
Die Bundesregierung hat auf die steigenden Preise mit mehreren Entlastungspaketen reagiert. Für Menschen wie die Khalids, bei denen Geld an jeder Ecke fehlt, seien die staatlichen Hilfen zu wenig, sagt Volker Hänneschen. „Da entscheidet dann so ein Antrag auf Mehrbedarf wegen Babyausstattung wirklich, was das Kind zu essen bekommt.“ Klar gebe der Staat gerade hohe Summen für die Unterstützung der Menschen aus. Aber die würden wie mit einer großen Gießkanne über dem Land ausgeschüttet. Manchen hilft das, manchen nicht. Das neue Wohngeld federe zum Beispiel die höheren Heizkosten ab, sagt Hänneschen. Aber eben nur pauschal mit 1,20 Euro pro Quadratmeter. „Am Existenzminimum ist das zu wenig.“
Volker Hänneschen wuchs in Finsterwalde im südlichen Brandenburg auf, 1984 kam er nach Senftenberg. Die Stadt war damals von einem grauen Schleier überzogen, erzählt er. Um Senftenberg herum gab es Brikettwerke. Aus den Schornsteinen kam schwarzer Ruß, der sich über die Stadt legte.
Nicht in der Kohle versinken
Die Biografien im Osten verliefen anders als im Westen. Mit 16 ging Volker Hänneschen von der Schule ab. Nur wenige machten damals Abitur, auch Hänneschen nicht. Er wollte in der DDR nicht linientreu sein, und zur Armee wollte er auch nicht. Volker Hänneschen arbeitete in der Grube, wie fast alle jungen Männer in Senftenberg. Er fuhr immer mit dem Moped hin. Nicht, weil das schneller ging, sondern weil er dann eine Ausrede hatte, wenn seine Kollegen um 10 Uhr vormittags anfingen, Schnaps zu trinken.
Mit 19 kam das erste Kind. Dann die Heirat. 1990 verließ Volker Hänneschen die Kohle. Die Schichten passten nicht mehr zur Familie. Er wollte nicht wie seine Kollegen „in der Kohle versinken“, sagt er, „gebrochene Männer“ nennt er sie.
Volker Hänneschen leistete Zivildienst bei der katholischen Kirche. Das war der erste Kontakt zur Caritas. Es stellte sich heraus, dass er gut mit Menschen kann. Er holte das Abitur nach. Sein Chef schickte ihn nach Berlin, zum Studium der Sozialarbeit. In Berlin-Karlshorst, auf die Katholische Hochschule für Sozialwesen. 1992 wurde dann die Sozialberatungsstelle der Caritas in Senftenberg gegründet. Volker Hänneschen trug die Büromöbel in das kleine Haus am Ende der Senftenberger Fußgängerzone, half während des Studiums immer wieder aus. Und blieb.
„In Senftenberg haben die Menschen andere Probleme als in Darmstadt oder Göppingen“, sagt Hänneschen. Seit in der Lausitz keine Kohle mehr abgebaut wird, kann man im Tourismus arbeiten oder bei einem großen Paketversand, der in der Nähe ein Lager hat. Viel mehr Jobs gibt es nicht. Auch deshalb hat Volker Hänneschen gut zu tun.
Eine der vielen Menschen, die er in den 30 Jahren als Berater kennengelernt hat, ist Helena Mägritz. Sie bekommt Sozialhilfe. Das Geld ist an jeder Ecke knapp. Jetzt wurde ihre Miete erhöht, der Preis für das Gas auch. Vor zehn Jahren verbrannte eines ihrer Kinder. Es spielte mit Streichhölzern. Die Wohnung fing Feuer. Das Kind starb. Seitdem ist Helena Mägritz schwer traumatisiert. Sie konnte nicht mehr arbeiten. Irgendwann kam sie mit den Anträgen für die Grundsicherung und andere Hilfen nicht mehr mit. So landete sie in der Beratung von Hänneschen.
„Hallo Helena“, sagt Volker Hänneschen. „Um was geht es heute?“„Um den Onkel“, sagt Helena Mägritz.
Ihr Onkel ist seit Oktober bei ihr untergebracht. Er ist pflegebedürftig. Ein Heim war zu teuer, deshalb kümmert sich jetzt Helena Mägritz um ihn. Aber finanziell ist das schwierig. Der Pflegedienst kommt täglich. Der Onkel muss Tabletten nehmen. Beim Aufräumen fand Helena Mägritz irgendwann die Tabletten im Schrank. Der Onkel nahm sie nicht mehr. Warum, kann sie nicht sagen. Helena Mägritz will jetzt Pflegegeld für ihren Onkel beantragen. Sie fragt, ob sie weniger Grundsicherung bekomme, wenn der Antrag auf Pflegegeld genehmigt werde?
Volker Hänneschen erklärt ihr, dass die Sozialhilfe und das Pflegegeld verschiedene Dinge sind. Das Amt werde ihr schon nichts wegnehmen. Er redet ruhig, nimmt sich Zeit.
Sie sagt, dass durch die Pandemie und die Inflation „der ganze Scheiß“ noch schwieriger geworden sei. „Wir kommen von einer Krise in die nächste.“ Das gilt für Deutschland, aber eben auch für sie persönlich. Die Gasrechnung steigt. Sie bezahlt. Der Onkel braucht Pflege. Sie bezahlt. Die Kinder brauchen neue Schulsachen. Sie bezahlt. Nie reiche das Geld.
Es sei messbar, dass die derzeitigen Krisen vor allem die mit dem wenigsten Einkommen im Land treffen, sagt Bettina Kohlrausch vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung. „Wer weniger Geld hat, leidet gerade mehr.“ Die Hans-Böckler-Stiftung hat erhoben, dass unter den Einkommensärmsten die Hälfte von starken finanziellen Belastungen berichtet. Bei einem Einkommen von 2.000 bis 3.500 Euro sind es unter den Befragten rund ein Viertel, bei den Einkommensreichsten lediglich 8 Prozent. In der Erhebung wurden nur Menschen befragt, die erwerbstätig sind. Für Menschen ohne Job ist die finanzielle Belastung noch mal höher, ist sich Bettina Kohlrausch sicher.
Und auch die Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung der Verbände berichtet von einer deutlich gestiegen Nachfrage im Jahr 2022. Die Menschen wendeten sich vermehrt wegen Energie- oder Mietschulden an die Anlaufstellen, ergab eine gerade veröffentlichte Umfrage. Oder sie benötigten eine Budgetberatung. Was so viel heißt wie: Sie kommen mit dem Geld, das sie zum Leben haben, nicht mehr hin.
„Hügel, Wälder, Wiesen, Felder?“
Als Helena Mägritz geht, sitzt schon der Nächste in Hänneschens Warteraum. Ungeduldig spielt er mit den Legosteinen auf dem Tisch. Christopher Heuer ist etwas über 60 Jahre alt. Er stammt aus einer reichen Unternehmerfamilie. Zum Schutz seiner Persönlichkeit wurden einzelne Details wie Aufenthaltsorte und Familienverhältnisse in diesem Text geändert.
Seine Familie habe ihn enterbt, als er 18 war, erzählt er. Warum, tue hier nichts zu Sache. Nur so viel: Er habe „ziemliche Scheiße“ gebaut, und sein Vater habe seinen Zustand ausgenutzt, als er am Boden war. Jetzt, 40 Jahre später, ist er wieder am Boden. Die Firma führt heute sein Bruder. Zur Familie hat er keinen Kontakt mehr.
„Was führt Sie hierher?“, fragt Hänneschen ungerührt.
„Ich bin jetzt Hartz-Mensch“, sagt Heuer.
„Hubertus-Pfennig meinen Sie, Hartz IV gibt’s nicht mehr“, sagt Hänneschen.
„Ach ja. Egal, auf jeden Fall kriege ich was vom Amt“, sagt Heuer. „Aber ich verstehe das alles nicht. Dafür war ich zu lange weg.“ Das Jobcenter habe ihn hierher geschickt, da seine Lage etwas „unübersichtlich“ sei.
Christopher Heuer besaß Diskotheken und Kneipen in ganz Deutschland. So erzählt er es. Manche liefen, manche liefen nicht. Er häufte Schulden an. Irgendwann setzte er sich nach Italien ab. Wann genau, weiß er nicht mehr. Dort versuchte er sich als Kunsthandwerker. Er eröffnete wieder eine Diskothek. Dann kam die Pandemie. Er habe in diesen Club investiert, Corona habe ihm das letzte Geld aus der Tasche gezogen. „Ich habe ein schönes Leben gelebt“, sagt Heuer. „Aber irgendwann war es gut.“ Er habe Kinder, die in Deutschland leben. Und die wollte er wiedersehen. Deshalb kam er Ende 2022 zurück. Im Landkreis Senftenberg vermietete ihm ein alter Freund eine Wohnung. Zwei Zimmer, 360 Euro. Heuer meldete sich beim Amt an. Zum ersten Mal seit fast 10 Jahren hatte er eine deutsche Adresse. Es dauerte gerade mal zwei Wochen, bis sich die ersten Gläubiger meldeten.
„Besitzen Sie noch irgendwas? Hügel, Wälder, Wiesen, Felder?“, fragt Hänneschen. „Alles weg. Seit Jahren“, sagt Heuer. Er greift in eine Plastiktüte und legt einen Zettel auf den Tisch. „Das ist der Anfang.“ Der Brief eines Inkassounternehmens. Ein Kostenfestsetzungsbeschluss von 1999. Christopher Heuer schuldet einem ehemaligen Lieferanten 123.405,57 Euro. Solche Geschichten gibt es viele im Leben von Christopher Heuer. Nach einer halben Stunde hat er einige davon erzählt.
„Okay“, sagt Volker Hänneschen und kratzt sich am Kopf. „Fangen wir an. Das Urteil ist von 1999. Das verjährt nach 30 Jahren. Da sie eh nicht zahlen können, warten Sie einfach mal ab.“ Stück für Stück. Ein Problem nach dem anderen. „Dann müssen Sie Privatinsolvenz anmelden.“ Volker Hänneschen erklärt Heuer, dass er bei einer privaten Insolvenz einen Freibetrag von 1.340 Euro hat. Trotz seiner Schulden. Von dem soll er leben und die Füße stillhalten. Sich wieder bei der gesetzlichen Krankenkasse anmelden. Schritt für Schritt ins Leben in Deutschland zurück. Hänneschen und Heuer sprechen noch eine Stunde. In einem Monat haben sie wieder einen Termin.
„Ich bin gespannt, ob er wieder auftaucht“, sagt Hänneschen, als Heuer sein Büro verlassen hat. „Eigentlich muss er. Alleine kriegt er das niemals hin.“
Bei den Gesprächen in seinem Büro bleibt Volker Hänneschen stoisch. Es ist nicht so, dass ihn die Schicksale kalt lassen würden. Eher, als habe er das alles schon mal gehört. Er ist wie ein Automat, der Lösungen ausspucken muss. Es sei eigentlich ganz simpel, sagt er. Wer zu wenig Geld hat, dem müsse er mehr Geld beschaffen. Dass sei seine Aufgabe im Papierkrieg.
Es gibt eine Frage, die sich in Volker Hänneschens Büro aufdrängt: Warum muss diesen Job hier die Caritas machen? Warum hilft sie Menschen wie Christopher Heuer oder Djamila Khalid? Warum tut das nicht der Staat?
Bei der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit erreicht man Jana Molle. Sie ist Professorin an der Hochschule Bremen und forscht zu Schnittstellen zwischen Jobcentern und Sozialberatungsstellen. Nicht nur die Caritas, auch die Diakonie, die Arbeiterwohlfahrt, der Paritätische Wohlfahrtsverband, das Rote Kreuz, Erwerbsloseninitiativen – alle bieten eine ähnliche kostenlose Sozialberatung wie Volker Hänneschen an. Jana Molle sagt: „Diese Beratungsstellen sind essenziell, weil sie die Lücke zwischen Bürgerinnen und Bürgern und der Sozialverwaltung schließen.“
Die Regierung hingegen ist zögerlich, was staatliche Sozialberatung angeht. Denn viele Politikerinnen und Politiker sind der Auffassung, dass da eine Doppelfinanzierung vorliegt. Behörden wie zum Beispiel das Jobcenter haben eine Beratungs- und Auskunftspflicht. „Eigentlich kann ich mit meinem Bescheid zum Jobcenter gehen und sagen: Ich verstehe das nicht“, sagt Jana Molle. Aber die Realität ist eine andere. „Menschen sehen die Jobcenter oft nicht auf ihrer Seite.“ Deswegen, sagt Molle, sind staatlich unabhängige Beratungsstellen wie die der Caritas so wichtig.
Und dann ist da noch die Komplexität. Christopher Heuer, Hassan Khalid, Helena Mägritz, Nicole Müller – sie alle wurden von verschiedenen Ämtern zu Volker Hänneschen geschickt. Weil ihre Anliegen zu komplex sind für ein einzelnes Amt. „Jobcenter bieten generalisierte Beratungsangebote an“, sagt Molle. „Aber Armut ist vielschichtig. Wenn die Leute gleichzeitig noch Probleme mit anderen Leistungsträgern haben, dann kann das Jobcenter auch nicht immer helfen.“ Auch deshalb seien die Sozialberatungsstellen wichtig. „Wir brauchen sie, weil sie Barrieren zu Leistungen überschreiten helfen.“
Schlaganfall im Asylbewerberheim
Die Sonne steht inzwischen tief und scheint durch die Jalousien in das Büro von Volker Hänneschen. Die nächste Person stellt sich als Kirsten Bödmayer vor. Hinter ihr steht ein Mann, deutlich jünger als sie. Er kam aus Indien nach Deutschland. Wann und wie, weiß er nicht mehr. Er lebt in einer Unterkunft für Asylbewerber in Senftenberg.
„Können Sie uns bei einem Asylverfahren helfen?“, fragt Kirsten Bödmayer. „Nein“, sagt Hänneschen. „Damit kenne ich mich nicht genug aus. Wenn ich hier ein falsches Kreuz setze, dann wird er abgeschoben. Das will ich nicht.“
Dann erzählt Kirsten Bödmayer, dass es ihr eigentlich um einen Schwerbehindertenausweis geht. Der Mann brauche finanzielle Unterstützung. „Weil ja alles teurer geworden ist“, sagt Bödmayer.
„Es gibt da einen Spruch vom Paritätischen Wohlfahrtsverband“, sagt Volker Hänneschen. „Gegen Armut hilft Geld.“ Vor allem bei langfristigen Hilfen werde es kompliziert, etwa Menschen in Jobs bekommen oder bei Integrationshilfen. Aber das passiere alles später, sagt Hänneschen. „Jetzt müssen wir ihn erst mal ins System kriegen.“
„Zusätzliche Mittel“ für den Mann, nennen wir ihn Rashid Kumar, kann er erst mit einem Ausweis beantragen. Und den Schwerbehindertenausweis kann Bödmayer erst beantragen, wenn sie auch Asyl beantragt.
Anträge, Anträge, Anträge.
Volker Hänneschen überlegt kurz. Dann bittet er die beiden, sich zu setzen und die ganze Geschichte zu erzählen.
Rashid Kumar wohnt in einem Asylbewerberheim. Kirsten Bödmayer ist seine Nachbarin. Sie hielten jeden Tag ein Schwätzchen am Zaun. Eines Morgens tauchte er nicht auf. Den Tag danach auch nicht. Sie fragte in der Unterkunft nach. Niemand hatte ihn gesehen. Kirsten Bödmayer klopfte an seine Zimmertür. Niemand öffnete. Sie hatte seinen Zweitschlüssel, falls er sich mal ausschloss. Rashid Kumar lag leblos in seinem Bett. Die Sanitäter sagten später, dass er einen Schlaganfall hatte. Ein Helikopter brachte ihn nach Berlin in die Charité. Er überlebte knapp.
„Seitdem ist nichts mehr wie vorher“, sagt Kirsten Bödmayer. Weil er sich allein nicht mehr versorgen konnte, übernahm sie die Vollmacht. Jetzt will sie einen Behindertenausweis für ihn beantragen, um weitere Leistungen beziehen zu können. Das Problem: Rashid Kumar hat keinen Pass. Nur einen Duldungsschein. Die indische Botschaft will ihm keinen neuen Ausweis ausstellen. Asyl beantragen kann aber nur, wer ein Dokument vorweisen kann.
„Uff“, sagt Volker Hänneschen heute zum ersten Mal. Er sieht sich den Antrag an, den Kirsten Bödmayer mitgebracht hat. „Dann mal los“, sagt er. Die beiden füllen den Antrag für den Schwerbehindertenausweis aus. Viele Fragen sind nicht zu klären, weil Rashid seit dem Schlaganfall Erinnerungslücken hat. Wo ist er geboren? Wie lange ist er schon in Deutschland? Hat er schon mal Asyl beantragt?
Als sie gegangen sind, atmet Hänneschen durch. Er ist sich sicher, der Antrag wird abgelehnt. Wegen der Lücken.
Wer durch das soziale Netz fällt, den treffen die Kosten der Inflation besonders stark. „Genau diese Lücke versuchen wir hier zu schließen“, sagt Volker Hänneschen. „Die Ärmsten der Armen leiden gerade am meisten. An die wollen wir rankommen.“
Allein an diesem Tag hat Volker Hänneschen zwölf Schicksale gehört. Alle sehr unterschiedlich, alle in ihren Einzelheiten schlimm.
Wie geht Volker Hänneschen damit um? „Sport“, sagt er. Wenn es in der Früh nicht hagelt so wie heute, dann fährt Hänneschen mit dem Fahrrad in die Beratungsstelle. Er wohnt über 30 Kilometer entfernt von Senftenberg. Auch das hilft. Abstand.
Über seinem Schreibtisch hängt eine Fotoleinwand, die hat er sich im Drogeriemarkt bestellt. Sechs Bilder von Berglandschaften, einem Wanderrucksack, Gletscher, Schnee. Im Sommer hat er eine Alpenüberquerung gemacht. E5, ganz alleine. Sechs Tage, 104 Kilometer. „Da wirst du den Kram los.“
Sozialberatung, sagt Hänneschen, verstehe er als knallharten Pragmatismus. Er stelle sich immer nur die eine Frage: Was kann ich tun, dass diese Person irgendwie einen Schritt weiter aus der Armut kommt? Helfen, sagt er, sei auf diese Weise sein Lebensinhalt geworden. Schnittstellen finden im sozialen System. Hochkomplexe Sozialfälle – wie Rashid Kumar, Christopher Heuer oder Helena Mägritz – irgendwie wieder in das System reinkriegen. Darin sehe er seine Aufgabe.
Stück für Stück
Wir gehen jetzt noch mal zurück zum Anfang. Zur Plastiktüte von Nicole Müller, die den ganzen Tag im Büro von Volker Hänneschen auf dem Linoleumfußboden stand. Über ein Jahr brauchte Volker Hänneschen, um das Leben von Nicole Müller zu ordnen. Er hat immer nur eine Bedingung für seine Hilfe: keine neuen Schulden. Bis jetzt klappt das bei Nicole Müller.
Volker Hänneschen kennt Müllers ganze Familie. Nicoles Mutter war schon hier in der Sozialberatung, vor 20 Jahren. Damals war sie so hoch verschuldet, dass sie fast ihre Wohnung verlor. Hänneschen konnte das verhindern. Nicole Müller kommt auch zu ihm. Sie ist Anfang 40. „Kinder übernehmen die Handlungen ihrer Eltern“, sagt Volker Hänneschen. Die beiden Kinder von Nicole Müller hat er ebenfalls im System. Auch sie sind inzwischen verschuldet. Die Gasrechnungen, die Stromrechnungen, die Handyverträge. Streamingabos, Online-Shopping. Irgendwann verloren auch sie die Übersicht.
„Es gibt Menschen“, sagt Volker Hänneschen, „für die sind die aktuellen Krisen irrelevant. Deren Probleme sind so fundamental, da macht die Inflation den Kohl auch nicht mehr fett.“ Ein solcher Fall sei Nicole Müller. Trotzdem gebe es Hoffnung. Wenn man Stück für Stück vorgehe, könne man jedes finanzielle Problem lösen. „Egal wie aussichtslos es erscheinen mag.“
Nicole Müller hat in zwei Wochen ihren nächsten Termin bei Volker Hänneschen. Die Plastiktüte bewahrt er für sie auf. Sie wollte sie nicht mehr in ihrer Wohnung haben. Aber sie will sich kümmern. Ein paar Positionen in der Exceltabelle sind schon abgearbeitet.
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