Flüchtlingsschiff in Libyen geräumt: Sturm auf die „Nivin“
Sicherheitskräfte haben ein besetztes Schiff im Hafen von Misurata geräumt. Rund achtzig Migranten hatten sich geweigert, von Bord zu gehen.
Die Einheiten, die offiziell dem Innenministerium unterstellt sind, schossen nach Aussage von Vertretern des Roten Halbmondes mit Gummigeschossen auf die Menschen an Bord, die sich mit Stangen bewaffnet hatten. Die meisten mussten aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustandes von Bord getragen werden, sagte ein Helfer des Roten Halbmondes. Der Einsatz dauerte mehr als zwei Stunden.
Zehn verletzte Migranten wurden in ein Krankenhaus gebracht. Die restlichen Besetzer wurden wie die zuvor von Bord gegangenen 29 Minderjährigen in das Migrantenlager al-Kararim östlich der libyschen Hauptstadt Tripolis gebracht.
Viele der Eritreer, Sudaner, Bangladescher und Äthiopier an Bord der „Nivin“ haben eigenen Angaben zufolge bereits monatelang in privaten oder von den libyschen Behörden geführten Lagern verbracht. Diese gleichen Gefängnissen. Menschenrechtsorganisationen zufolge kommt es in den Lagern regelmäßig zu Folter und Zwangsarbeit.
„Folter und Missbrauch waren an der Tagesordnung. Unsere Verwandten mussten 1.000 Dollar für unsere Freilassung schicken“, schilderte einer der Männer an Bord der „Nivin“ der taz am Telefon, bevor das Schiff gestürmt wurde. „Ich gehe um keinen Preis zurück“, sagte der aus dem Südsudan stammende Mann, der seinen Vornamen mit Kai angab. „Uns wurde gesagt, wir würden nach Italien gebracht, nicht nach Libyen.“
Botschafter verhandelten mit den Besetzern
Vor der Räumung des Schiffs waren am Montag Verhandlungen mit den Besetzern gescheitert. Die Botschafter Bangladeschs, Sudans, Pakistans und Somalias waren nach einem Treffen im libyschen Innenministerium in Tripolis am Montag nach Misurata gefahren, um ihre Landsleute zu überzeugen, sich den libyschen Behörden zu stellen. Doch die Streikenden weigerten sich offenbar, das Schiff zu verlassen. Die Bewaffnung habe der „Selbstverteidigung“ gedient, sagte Kai.
Kai, Besetzer der „Nivin“
Medienvertretern war der direkte Zugang zum Schiff verwehrt. Internationale Journalisten dürfen sich in Libyen ohnehin nur mit Begleitern der Medienbehörde bewegen, die alle nach Misurata gereisten Reporter am Sonntag zurück in das 200 Kilometer entfernte Tripolis gebracht hatte.
Der libysche Journalist Taher Zaroog kritisierte gegenüber der taz, dass man zumindest die Schwangeren an Bord der „Nivin“ in Krankenhäuser hätte bringen müssen. In Hinblick auf die Lage der vielen Migranten in Libyen kritisierte er, dass die lokalen Behörden mit der Versorgung der in diesem Jahr 12.300 auf dem Mittelmeer Geretteten alleine gelassen würden.
Paula Barrachina Esteban vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR hatte noch am Montag gegenüber der taz erklärt, man versuche, zusammen mit den Behörden eine alternative Unterbringung für die Menschen an Bord der „Nivin“ zu finden. Dies ist offenbar gescheitert.
Das UNHCR hat von der EU mehrere Millionen Euro erhalten, um von Milizen kontrollierte Lager zusammen mit dem libyschen Innenministerium zu verwalten. Doch selbst dem im Sommer renovierten Tariq-al-Sikka-Zentrum, das direkt neben dem Amtssitz des libyschen Premierministers Fayiz as-Sarradsch in Tripolis liegt, fehlen die nötigen Zulassungen.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Alleingang des Finanzministers
Lindner will Bürgergeld kürzen
Putins Brics-Gipfel in Kasan
Club der falschen Freunde
Deutsche Asylpolitik
Die Hölle der anderen
Kritik an Initiative Finanzielle Bildung
Ministeriumsattacke auf Attac
Linke in Berlin
Parteiaustritte nach Antisemitismus-Streit
Investitionsbonus für Unternehmen
Das habecksche Gießkannenprinzip