Flüchtlingsprotest in Berlin: Wie ein Ort viele Orte wurde
Viele Aktivisten vom Oranienplatz engagieren sich weiter, doch ihre Kämpfe sind aufgesplittert wie nie – nur manchmal gibt es noch Momente der Verbindung.
Oumar ist noch etwas müde - gestern hatte das Theaterstück, in dem der 28-Jährige mitspielt, am Ballhaus Naunynstraße Premiere. „One day I went to *IDL“, heißt es, 13 junge Flüchtlinge und migrantische Jugendliche erzählen darin ihre Geschichten. Es ist nicht das erste Stück, an dem er mitwirkt. „Es gibt unzählige Theater- und Kunstprojekte mit Leuten, die früher am Oranienplatz gewohnt waren oder dort aktiv waren“, sagt Oumar. Er hat selbst zwei Jahre lang im Protestcamp gelebt, bevor dieses im April 2014 geräumt wurde.
Jan Watzig, der den Oranienplatz-Protest von Anfang an als Unterstützer begleitet hat, beschreibt die Theaterprojekte als einen der vielen Orte, in denen sich die Oranienplatz-AktivistInnen jetzt engagieren - nachdem es den einen, zentralen Ort nicht mehr gibt. „Es gibt die Kunstsachen, die Kochprojekte, die Schlafplatzorga, die Mediengruppe, den International Women Space, das Schul-Umfeld, Gruppen wie die Chad Youth in Germany oder die African Refugees Union“, zählt Watzig auf, und man merkt, dass diese Liste noch weitergeführt werden könnte. Denn insofern hat sich die Parole vom letzten Sommer - „Eine Bewegung lässt sich nicht räumen“ - bewahrheitet: Viele derjenigen, die damals am Oranienplatz aktiv waren, sind es auch heute noch. „Es gibt auch Menschen, die man nicht mehr sieht, die zumindest aus den politischen Zusammenhängen verschwunden sind, aber die allermeisten sind noch da“, sagt Watzig, und Oumar nickt.
Viel zu wenig Schlafplätze
Gleichzeitig sagen beide deutlich: Ohne den O-Platz ist nichts mehr so, wie es war. „Für uns alle, die wir früher dort gewohnt haben, hat sich die Situation deutlich verschlechtert“, sagt Oumar. Er selbst hat sogar noch Glück: Er gehört zu den etwa 100 Menschen, die momentan über die Evangelische Kirche untergebracht sind - keine Dauerlösung und keine Sicherheit, aber immerhin halbwegs verlässliche Strukturen. „Andere freuen sich schon, wenn sie für zwei Wochen in einem Zimmer bleiben können, viele ziehen alle drei Tage“, sagt er. Am O-Platz in Zelten zu wohnen sei nicht immer schön gewesen, aber wenigstens habe man dort morgens gewusst, wo man am abend schlafen wird.
Auf der Demonstration „Europa. Anders. Machen“ soll es am Samstag nicht nur um die europäische Krisenpolitik, sondern auch um die Flüchtlingsfrage gehen. Insbesondere wenden sich die Organisatoren gegen die geplante Asylrechtsverschärfung, die der Bundestag möglicherweise noch vor der Sommerpause verabschieden will. Los geht es um 13 Uhr auf dem Oranienplatz, von dort führt die Route zum Brandenburger Tor. Das „Bündnis für bedingungsloses Bleiberecht“ organisiert die Abschlusskundgebung mit großem Konzert. (mgu)
Neulich erst hat die Kirche gemeinsam mit den Flüchtlingen vor der Innenverwaltung protestiert, mit einem großen selbtsgebauten Boot auf das Schlafplatzproblem aufmerksam gemacht. „Es ist gut, dass die Kirche jetzt auch Druck auf den Senat ausübt - aber wir dürfen auch nicht vergessen, dass es viele ehemalige O-Platz-Bewohner gibt, für die sich niemand einsetzt“, sagt Watzig. Über 500 Menschen standen damals auf der Liste der BewohnerInnen, die die MitarbeiterInnen von Integrationssenatorin Dilek Kolat erstellt hatten.
Ein zentraler Ort fehlt
Fast niemand von ihnen ist heute noch in einer regulären Berliner Flüchtlingsunterkunft untergebracht - in ihre Heime in der Provinz oder gar nach Italien aber sind ebenfalls nur die Wenigsten zurückgekehrt. Wer die E-Mail-Verteiler des Berliner Flüchtlingsprotest verfolgt, bekommt den Eindruck, dass die Organisation von Schlafplätzen mittlerweile für viele UnterstützerInnen zur einzigen Beschäftigung geworden ist, ununterbrochen braucht es neue Zimmer.
Aber der Oranienplatz fehlt längst nicht nur als Ort zum Schlafen: „Die Leute sind noch aktiv, aber die Bewegung ist aufgesplittert wie nie“, sagt Watzig, der im Protestcamp und danach kontinuierlich und unablässig aktiv war. Das habe nicht nur Nachteile: „Natürlich kann man auch sagen, dass der Protest dadurch gewachsen ist, dass er sich ausdifferenziert hat und dass jetzt viel mehr Dinge gleichzeitig möglich sind“, sagt er. Aber trotzdem sei der eine, physische Ort eben auch von großem Wert gerade für diese Bewegung gewesen, die ja nicht nur aus Menschen besteht, die seit Jahrzehnten in politischen Gruppen aktiv sind. „Hier am O-Platz konnten die Leute langsam darein wachsen, sich politisch zu engagieren, sie konnten Leute kennenlernen und sich zusammentun“, sagt Oumar. Außerdem war es, ganz einfach, der Ort zum Ankommen. „Hier sind die Leute direkt nach ihrer Ankunft hingegangen und wurden aufgenommen.“ Gruppen, die sich vielleicht einmal in der Woche treffen, können diese Funktion nicht übernehmen.
Vor seiner Ankunft in Deutschland lag in Oumars Leben eine Geschichte, deren Eckdaten er mit vielen anderen Flüchtlingen gemeinsam hat: Von seinem Heimatland Niger aus war er zum Arbeiten nach Libyen gegangen, von wo aus er nach Ausbruch des Krieges fliehen musste. Zwei Tage habe er auf dem Mittelmeer verbracht, bevor er auf der italienischen Insel Lampedusa ankam. Von Italien aus kam er schließlich nach Deutschland, nach Berlin, auf den Oranienplatz. „Das war ein sehr wichtiger Ort für mich, hier habe ich zum ersten Mal Unterstützung erlebt“, sagt Oumar, der einen zurückhaltenden, fast etwas verträumten Eindruck macht.
Am Oranienplatz kamen Essens- und Kleiderspenden an, hier sammelten sich Unterstützer und Übersetzer, es gab Informationen zu Beratungsstellen, Besuche von Anwälten oder Ärzten und natürlich die große, oft internationale Aufmerksamkeit. Heute suchen Aktivisten nach einer Möglichkeit, politisches Engagement und Geldverdienen zu verbinden, oder sie sind längst nur noch mit der Suche nach einem Job statt der Planung für die nächste Demo beschäftigt.
„Klar gab es damals auch viele Konflikte unter den Bewohnern und Unterstützern“, sagt Watzig. „Aber die Tatsache, dass diese unterschiedlichen Menschen alle Politik im Namen des gleichen Ortes gemacht haben, hat sie quasi dazu gezwungen, diese Differenzen immer wieder zu überwinden.“ Einen solchen Anlass gibt es heute nicht mehr, „auch wenn der Oranienplatz sicher auf Jahre ein verbindendes Erlebnis bleiben wird“, sagt er.
Rückschau und Reflektion
Die Geschichte dieses Ortes wollen einige der AktivistInnen jetzt in einer Ausstellung in Kooperation mit dem Kreuzberg-Museum in der Adalbertstraße erzählen. Mit einer Chronologie des Protestes, gesammelten Foto- und Videoaufnahmen, eigenen Texten und einem umfangreichen Archiv der Medienberichte soll die Ausstellung auch zur Reflektion dienen: „Es ist eine Ausstellung von der Bewegung nicht nur, aber auch für die Bewegung, die auch ermöglichen soll, über die eigenen Erfahrungen und auch die vielen Konflikte rund um den Oranienplatz nachzudenken und sich auszutauschen“, so Watzig. Am 6. August soll die Ausstellungseröffnung im Kreuzberg-Museum stattfinden.
Hier die Rückschau, dort der tägliche Kampf um den Schlafplatz. Hier der symbolische Bootsbau, dort die Suche nach einem Job: Was die ehemaligen Oranienplatz-BewohnerInnen beschäftigt, ist häufig unterschiedlich und ungleichzeitig geworden. Dennoch gibt es immer wieder verbindende Momente: Bei der Demonstration „Europa Anders Machen“ zum Weltflüchtlingstag am kommenden Samstag, die ganz selbstverständlich am Oranienplatz beginnt, werden sie viele bekannte Gesichter sehen, sind sich die beiden Aktivisten sicher. Eine wichtige Rolle wird auf der Demo die geplante bundesweite Asylrechtsverschärfung spielen - ein Thema, das momentan viele ehemalige O-Platz-AktivistInnen zusammenbringt, weil es fast alle von ihnen betrifft: Kommt das Gesetz durch, wird es künftig möglich sein, Flüchtlinge nur deswegen zu inhaftieren, weil sie aus einem anderen EU-Staat eingereist sind. Den Oranienplatz und seine vielfältigen Nachfolger-Kämpfe hätte es mit diesem Gesetz vielleicht nie gegeben - weil die Protagonisten dieser Kämpfe längst im Knast säßen.
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