Flüchtlingspolitik im Grünen-Programm: Grünen-Spitze streicht Klimapass
Angst vor Diffamierung? Lange hatten die Grünen für das Instrument in der Flüchtlingspolitik geworben – nun ist es aus dem Programm verschwunden.
Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock erklärte am Montag auf taz-Nachfrage, die Grünen-Spitze habe im Programmentwurf mit vielen Projekten „sehr, sehr deutlich“ gemacht, was sich ändern müsse. Dabei müsse man sich überlegen, was man in vier Jahren anschieben und umsetzen könne, sagte Baerbock. „Es bringt nichts, alles aufzuschreiben, was einem einfällt – und dann hat man keine Prioritäten drin, was man als Erstes angehen muss.“
In der Tat gibt es bei den Grünen über die grobe Richtung – mehr Schutz für wegen der Klimakrise heimatlos gewordene Menschen als internationale Aufgabe – keinen Dissens. Aber sehr wohl über die Frage, wie konkret man wird. Luise Amtsberg, die flüchtlingspolitische Sprecherin der Fraktion, sieht es ähnlich wie Baerbock: „Ins Wahlprogramm gehören Projekte, die sich in vier Jahren umsetzen lassen.“ Der Klimapass als Instrument globaler Verantwortung solle international umgesetzt werden, deshalb gehöre er ins Grundsatz- und nicht zwingend ins Wahlprogramm. „Ein grünes Außenministerium würde diesen Aspekt natürlich mitdenken.“
Allerdings stehen im Wahlprogramm in anderen Themenbereichen diverse Projekte, die erst nach der nächsten Legislaturperiode zu verwirklichen sind. Etwa beim Klimaschutz: So wollen die Grünen etwa die Fahrgastzahlen im öffentlichen Personennahverkehr bis 2030 verdoppeln – oder den Autokonzernen ab 2030 nur noch die Produktion emissionsfreier Autos erlauben. Hier wollen die Grünen also in der nächsten Legislatur mit Blick auf die Zukunft aktiv werden. Beim Klimapass für Geflüchtete gelten offenbar etwas andere Maßstäbe.
Boulevardblatt zog das Thema hoch
Andere Grüne würden sich eine Verankerung im Wahlprogramm wünschen. „Ich gehe davon aus, dass der Klimapass ins Wahlprogramm kommt“, sagte der Europaabgeordnete Erik Marquardt, ebenfalls Experte in Flüchtlingsfragen. Der Klimapass sei aber nur ein Baustein von vielen, betonte er. „Wichtig ist eine europäische Strategie, die es Klimaflüchtlingen ermöglicht, auch in ihrer Heimatregion Perspektiven zu finden.“
Eine Rolle dürfte bei der Entscheidung der Parteispitze auch spielen, dass ein Klimapass von konservativen Medien und Wettbewerbern leicht zu diffamieren ist. Im Programm für die Europawahl 2019 widmeten die deutschen Grünen der Idee noch einen ganzen Absatz. Die EU solle „zusammen mit anderen Industriestaaten vorangehen und im Rahmen einer gemeinsamen Regelung den Bewohner*innen von bedrohten Inselstaaten, die durch die Klimakrise unbewohnbar werden, Klimapässe anbieten“, hieß es darin. Historisch betrachtet, so das Argument, seien die westlichen Industriestaaten die Hauptverursacher klimaschädigender Treibhausgase.
Im Dezember 2019 brachte die Grünen-Fraktion einen entsprechenden Antrag in den Bundestag ein. Das Parlament solle die Bundesregierung auffordern, den Klimapass voranzutreiben, „dessen individueller Ansatz den Betroffenen ermöglicht, selbstbestimmt und frühzeitig über ihre Migration zu entscheiden“, hieß es darin. Das Thema ist brisant und hochaktuell. Faktisch werden jetzt schon Menschen durch Wüstenbildung, Ernteverlust, Versalzung der Böden, Hitzewellen und andere Phänomene vertrieben. Inselstaaten wie dem im Pazifik liegenden Tuvalu droht durch ansteigende Meeresspiegel der Untergang.
Kurz nach dem Parlamentsantrag der Grünen entdeckte die Bild-Zeitung damals das Thema – und zog es hoch. „Kann jeder Klima-Flüchtling bald Deutscher werden?“, fragte das Boulevardblatt – und ignorierte, dass es bei dieser Idee eine internationale Kooperation gäbe. Solche Schlagzeilen kämen der Grünen-Führung im beginnenden Wahlkampf sehr ungelegen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs