Flüchtlingskinder in Berlin: Willkommen im Chaos
Deutsch lernen mit „deutschen“ MitschülerInnen? Die Realität für neu angekommene Flüchtlingskinder in Berliner Schulen sieht anders aus.
Es ist eine Nachricht mit Seltenheitswert: In Berlins chronisch vollen Klassenzimmern gibt es wieder Platzreserven. Rund 1.000 Kinder könne man noch in den bestehenden „Lerngruppen für Neuzugänge ohne Deutschkenntnisse“, vulgo Willkommensklassen, unterbringen, heißt es aus der Senatsbildungsverwaltung. Zusätzliche Klassen in der Nähe von neu eingerichteten Unterkünften seien „in Planung“, die Einstellungsverfahren für die zusätzlich benötigten Lehrkräfte liefen. Man fühle sich „auf die momentane Entwicklung“ der Flüchtlingszahlen „gut vorbereitet“, so eine Sprecherin zur taz.
Zu wenig Platz
Herzlich willkommen also im Integrationswunderland Berlin? Flüchtlingskinder, die spätestens vier Wochen nach ihrer Ankunft in Berlin, so das Ziel der Senatsbildungsverwaltung, in einer Lerngruppe Deutsch lernen, nebenher schon mal einige Stunden in einer „normalen“ Klasse sitzen und nach einem Schuljahr in den regulären Unterricht integriert werden: das ist die Idee hinter den Willkommensklassen. Doch die Realität sieht oft anders aus.
In Lichtenberg etwa gibt es offenbar so wenig Platz in den Schulen, dass die meisten Kinder der Erstaufnahmeeinrichtung Herzbergstraße nicht in die nächsten Schulen gehen – die Lehrer kommen zu ihnen. Seit Februar werden in dieser „Heim-Schule“ rund 60 Kinder, vor allem im Grundschulalter, von fünf Lehrern unterrichtet, zunächst im Kinderspielraum, inzwischen in angemieteten Räumen im selben Gebäude.
Von Integration durch Teilhabe am „normalen“ Leben, durch Kontakt mit „deutschen“ Kindern sind solche Zustände meilenweit entfernt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Heim-Schule offenbar auch nicht als Übergangslösung gedacht ist für eine Erstaufnahmeeinrichtung, die die Flüchtlinge (theoretisch) nach drei Monaten Richtung Gemeinschaftsunterkunft verlassen können. So gehen nach taz-Informationen nicht nur Kinder dorthin, die schon länger als sechs Monate im Heim leben, sondern auch solche, die inzwischen in andere Einrichtungen umgezogen sind.
Immerhin: Nach Auskunft der Senatsbildungsverwaltung ist die Lichtenberger Heimschule bislang eine Ausnahme. Und trotz der steigenden Flüchtlingszahlen bleibe man auch bei dem Ziel, „die Flüchtlingskinder in den Regelschulen unterzubringen“, so ein Sprecher zur taz.
Auch in Mitte ist Schulstadträtin Sabine Smentek (SPD) stolz darauf, „alle Willkommensklassen direkt in den Schulen unterzubringen.“ Tatsächlich werden derzeit im Bezirk 507 Kinder in 60 Willkommensklassen unterrichtet, das sind rund 8,5 SchülerInnen pro Klasse. Die von der Senatsbildungsverwaltung gesetzte Obergrenze liegt bei 12 Kindern.
Gemeinsam mit den Schulträgern habe man „genau geschaut, wo an welcher Schule noch kleinere Räume – Besprechungszimmer etwa – zur Verfügung stehen“, sagt Schulstadträtin Smentek. Räume unter 45 Quadratmetern, die damit zwar zu klein sind für reguläre Klassenräume – aber nicht für maximal 12 Willkommenskinder. Eine Prognose, wie lange der Vorrat an solchen Räumen noch reicht, wagt Smentek aber nicht. „Wir bekommen täglich neue Wasserstandsmeldungen.“
Ein weiteres Problem neben der zunehmenden Raumknappheit: Nicht immer werden die Willkommensklassen dort untergebracht, wo die Kinder nahtlos in eine „normale“ Klasse wechseln könnten. Die Lichtenberger Schule Am Breiten Luch etwa ist eine sonderpädagogische Förderschule. Die angeschlossene Grundschule nimmt ausschließlich Willkommenskinder auf – fast alles Flüchtlingskinder aus den Heimen in der Werneuchener Straße und der Rhinstraße. Zwangloses Deutschlernen in gemeinsamen Unterrichtsstunden mit „deutschen“ MitschülerInnen findet auch hier nicht statt. Zudem steht für die Kinder, wenn sie gut genug Deutsch können, der Wechsel in eine normale Grundschule an.
Dieser Wechsel von der Willkommens- in eine Regelklasse ist auch in anderen Fällen ein Problem. Denn nicht immer übernehmen die Schulen ihre Willkommensschüler in die „normalen“ Klassen, sagt Walid Chahrour, Leiter des Beratungs- und Betreuungszentrum für junge Flüchtlinge und Migranten (BBZ). Gar nicht selten käme es daher zu „mehr oder weniger langen Schulunterbrechungen“, bis ein neuer Schulplatz gefunden sei, kritisiert er.
Schwierig wird es für die Kinder auch, wenn sie von einer Willkommensklasse in eine andere wechseln müssen, weil die Familie einen Heimplatz in einem anderen Bezirk oder – was immer seltener wird – eine Wohnung anderswo zugewiesen bekommt. Eben hat sich ein Kind an einem Ort eingelebt, Freunde gefunden, schon muss es wieder weg. „Das ist für die Kinder, von denen die meisten schon viel durchgemacht haben, nicht ideal,“ sagt die Lichtenberger Schulleiterin Isolde Adling. Chahrour vom BBZ fordert für solche Fälle mehr Flexibilität von den Bezirken – und die Bereitschaft, nach den Bedürfnissen der Kinder zu entscheiden.
Wenig hält er dagegen vom neuesten Vorstoß des Bezirksbürgermeisters von Marzahn-Hellersdorf, Stefan Komoß (SPD). Komoß, der seit über einem Jahr klagt, dass sein Bezirk die vielen Flüchtlingskinder nicht mehr in Schulen unterbringen kann, hatte gegenüber der taz vorige Woche die Frage aufgeworfen, ob Flüchtlingskinder wirklich schon in der Notunterkunft und Erstaufnahmeeinrichtung beschult werden müssen, wenn sie doch perspektivisch verlegt werden, oft in andere Bezirke.
Für Chahrour ist die Sache klar. „Kinder brauchen die Normalität des Schulalltags“, findet er – besonders wenn sie in einer Notunterkunft, einem Hostel oder gar in einer Turnhalle untergebracht seien. Auch die Bildungsverwaltung erklärt, für Kinder in Notunterkünften gelten Schulpflicht und das Recht auf Bildung. In Spandau, wo mit der ehemaligen Knobelsdorf-Kaserne inklusive Zeltstadt die größte Notunterkunft mit 1.700 Plätzen steht, sieht man das ebenso. Allerdings, so die Sprecherin des Heimbetreibers Prisod, dauere es oft Wochen, bis die Menschen registriert würden und eine Meldung ans Schulamt erfolgen kann (siehe Kasten links oben).
Noch länger auf ihren Schulplatz warten müssen derzeit die „unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge“ (UMF), wie sie im Fachjargon heißen, also Jugendliche, die ohne Eltern hierher geflohen sind. Weil die für sie zuständige Erstaufnahme- und Clearingstelle (EAC) völlig überlastet ist, leben derzeit mehr als 600 von ihnen bei Verwandten oder in Notunterkünften, etwa Hostels. Dort warten sie Monate – im Moment bis Januar – auf ihr Erstgespräch beim EAC und die Klärung von Alter, Bildungsstand und Betreuungsbedarf, wie der Sprecher der Senatsbildungsverwaltung, Ilja Koschembar, zugibt. Bis dahin gibt es für die Teenies keine Willkommensklasse, sondern allenfalls ein, zwei Deutschstunden am Tag im Hostel.
Dieser Text ist Teil des aktuellen Schwerpunkts der Wochenendausgabe der taz.berlin. Darin außerdem: eine Reportage zum Thema. In Ihrem Briefkasten und am Kiosk.
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