Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer: Zahl der Toten steigt weiter
Bei der erneuten Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer werden rund 950 Tote befürchtet. Hilfsorganisationen und Politiker drängen auf Konsequenzen seitens der EU.
ROM/GENF/RIAD ap/dpa | Bei der vermutlich bisher schlimmsten Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer haben sich einem Überlebenden zufolge 950 Menschen auf dem gekenterten Schiff befunden. Rund 300 der Insassen seien von Schmugglern in den Laderaum des Fischerboots gesperrt worden, sagte der Mann aus Bangladesch der Staatsanwaltschaft. Mehrere europäische Staats- und Regierungschefs forderten Konsequenzen.
Die genaue Zahl der Menschen an Bord ist bisher nicht klar. Das Schiff war auf dem Weg nach Malta vor der Küste Libyens gesunken. Laut Küstenwache kenterte das Boot womöglich deshalb, weil Flüchtlinge auf eine Seite geeilt waren, als sie am Samstagabend ein unter portugiesischer Flagge fahrendes Containerschiff herannahen sahen. Die „King Jacob“ war losgeschickt worden, um den Migranten zu helfen.
Der italienische Grenzpolizist Antonino Iraso sagte, das Mittelmeer sei am Unglücksort zu tief für Taucher, wodurch nicht alle Opfer gefunden und somit womöglich niemals eine endgültige Opferzahl angegeben werden könne. Vor Libyen ist das Meer bis zu fünf Kilometer tief.
UN-Generalsekretär Ban Ki Moon teilte am späten Sonntagabend (Ortszeit) in New York mit, die jüngste Tragödie sei eine dringliche Erinnerung „an den akuten Bedarf an einer robusten Such- und Rettungskapazität im Mittelmeer“. Das Gebiet sei „die tödlichste Route der Welt, die von Asylsuchende und Migranten genutzt wird“.
Solidarität und mehr Mittel
Nach der Havarie sprach sich der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras für einen von Renzi vorgeschlagenen EU-Krisengipfel zum Thema Migration aus. Südliche EU-Länder müssten Vorschläge koordinieren, um Flüchtlingstragödien zu verhindern, sagte Tsipras. Er forderte europäische Solidarität. „Unsere Meere können nicht zu Leichendeponien werden“, sagte Tsipras.
Frankreich, Spanien, Deutschland und Großbritannien forderten eine einheitliche Reaktion auf das Problem. Europa könne und müsse mehr tun, sagte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. „Es ist eine Schande und ein Armutszeugnis, wie viele Länder vor Verantwortung wegrennen und wie wenig Geld wir für Rettungseinsätze bereitstellen.“
Europa müsse mehr Schiffe und mehr Flugzeuge zur Verfügung stellen, sagte Frankreichs Präsident François Hollande dem Fernsehsender Canal. Nur mit Worten werde das Problem nicht gelöst, sagte Spaniens Regierungschef Mariano Rajoy.
Auch CSU-Chef Horst Seehofer hat die Europäische Union zum Handeln aufgefordert. „Das ist eine ganz, ganz große Tragödie“, sagte der bayerische Ministerpräsident am Montag am Rande seines Besuchs in Saudi-Arabien in Riad. „Und ich denke, das führt uns allen vor Augen, dass sich die internationale Staatengemeinschaft wesentlich intensiver um diese Problematik kümmern muss als dies in der Vergangenheit der Fall war.“ Das könne man Italien nicht alleine überlassen, sagte Seehofer mit Blick auf die Flüchtlingsdramen auf dem Mittelmeer. „Sondern für solche Zwecke gibt's die Europäische Union - und die sollte gemeinschaftlich tätig werden.“
Hilfsorganisationen fordern Hilfe von EU
Auch Menschenrechts- und Hilfsorganisationen verlangen von der EU, solche Tragödien zu verhindern. Die Hauptforderung von Organisationen wie Human Rights Watch (HRW), dem UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) oder der Internationalen Organisation für Migration (IOM) lautet: Die EU soll die 2014 von Italien eingestellte Such- und Rettungsoperation Mare Nostrum als gemeinschaftliche Aktion erneut starten.
„Die EU steht mit verschränkten Armen da, während vor ihren Küsten Hunderte sterben“, kritisiert die stellvertretende Europa-Direktorin von HRW, Judith Sunderland. Die Frontex-Mission Triton, mit der Mare Nostrum abgelöst wurde, habe „viel weniger Schiffe, nur ein Drittel des Budgets und ein kleineres geografisches Ausmaß“.
„Das Desaster zeigt, wie dringend eine robuste Seerettungsoperation ist“, sagt UN-Flüchtlingskommissar António Guterres. Die Europäer müssten sich aber auch auf ein umfassendes Herangehen verständigen, mit dem „die tieferen Ursachen angegangen werden, die so viele Menschen in die Flucht und ein derart tragisches Ende treiben“. Nötig seien zudem legale Fluchtwege und „humanitäre Visa“.
Entschlossenes Vorgehen gefordert
Die Einrichtung sicherer Fluchtkorridore fordert auch IOM-Generaldirektor William Swing. Zudem müsse Menschen aus Kriegsgebieten wie Syrien sofort ein zeitweiliger Schutzstatus gewährt werden, sagte Swing im CNN-Interview. Zugleich fordert er ein entschlossenes Vorgehen gegen alle, die Profite mit Flüchtlingen machen. „Menschenschmuggler müssen verhaftet und bestraft werden.“
Die IOM organisiert derzeit eine globale Konferenz zur Flüchtlingsproblematik. Alle humanitären Organisationen sind sich jedoch darin einig, dass die Seenotrettung Vorrang vor Konferenzen hat. „Wie viele Menschen sollen noch sterben, bevor die EU anerkennt, dass das Triton-Programm nicht genug ist und durch eine echte Such- und Rettungsoperation ersetzt werden muss“, heißt es in einer Stellungnahme der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften (IFRC).
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Gastbeitrag in der „Welt am Sonntag“
Bequem gemacht im Pseudoliberalismus