Flüchtlings-Unterbringung im Norden: Die Kommunen sollen‘s richten

Weil Erstaufnahmen überlastet sind, sollen Flüchtlinge in Niedersachsen jetzt sofort in Turnhallen statt in unbeheizten Zelten schlafen. Schleswig-Holstein zeigt, wie es besser geht.

Kein Platz mehr in den Erstaufnahmen: Niedersächsische Kommunen sollen Turnhallen für Flüchtlinge bereitstellen. Foto: Julian Stratenschulte/dpa

HANNOVER taz | Angesichts steigender Flüchtlingszahlen und überlasteter Erstaufnahmen zieht Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius die Notbremse: Schon ab heute will der Sozialdemokrat täglich rund 1.000 neu in den Norden gekommene Schutzsuchende statt in einer Erstaufnahme direkt von den Städten und Kreisen versorgen lassen. Dies sei „alternativlos angesichts Zehntausender Menschen, die allein seit Anfang September nach Niedersachsen gekommen sind“, sagte der Minister – und verpflichtete die Kommunen zur „Amtshilfe“.

Doch die sehen sich am Rand ihrer Belastbarkeit: Mit Pistorius‘ Hilferuf sei eine „neue Stufe der Dramatik der Unterbringung“ von Flüchtlingen erreicht, sagte der Präsident des niedersächsischen Städte- und Gemeindebunds, Marco Trips. Zwar „könnten und wollten“ sich die Kommunen der Unterstützung für das Land nicht entziehen – allerdings seien die Kapazitäten vor Ort nicht endlos: Bald müssten „Turnhallen und Dorfgemeinschaftshäuser belegt“ und Asylsuchende in beschlagnahmte leer stehende Wohnungen eingewiesen werden. „Das kann zu massivem Ärger in der Bevölkerung führen“, warnte Trips‘ Sprecher Thorsten Bullerdieck gegenüber der taz.

Der Geschäftsführer des niedersächsischen Städtetages, Heiger Scholz, nannte die Bitte des Landes eine „Notstandserklärung“ – und klang dabei wie die Innenpolitiker der Landtagsopposition. CDU-Fraktionschef Björn Thümler und der FDP-Mann Jan-Christoph Oetjen sprachen wortgleich von einer „Boykotterklärung“. Thümler forderte mehr Abschiebungen. Das System der Erstaufnahme sei „zusammengebrochen“, erklärte Oetjen. Flüchtlingen müsse es endlich erlaubt werden, auch bei Verwandten unterzukommen – bisher schreibt etwa die Landeshauptstadt Hannover Asylsuchenden vor, bis zu vier Jahre in Gemeinschaftsunterkünften leben zu müssen.

Im Norden leben aktuell mehr als 9.000 Flüchtlinge in Unterkünften, die nicht winterfest sind:

Hamburgs Innenbehörde hat schnell auf Proteste frierender Asylsuchender reagiert: Alle Zelte mit 4.100 Schlafplätzen sind jetzt beheizbar. Bis November sollen sie durch Wohncontainer ersetzt werden.

Im niedersächsischen Otterndorf an der Nordsee leben 600 Flüchtlinge noch immer in einem Sommercamp. Die Wände nässen schon heute durch.

Schleswig-Holstein hat dagegen keine Flüchtlinge dauerhaft in Zelten untergebracht.

Im Land Bremen sind seit 2013 rund 10.400 Flüchtlinge aufgenommen worden, hinzu kommen etwa 2.200 unbegleitete Minderjährige. Das entspricht einem Bevölkerungszuwachs von zwei Prozent in drei Jahren. Rund 1.000 der jetzt in Bremen lebenden Flüchtlinge sind in Zelten untergebracht. "Wir müssen damit rechnen", sagt Sozialressort-Sprecher Bernd Schneider, "dass auch während des Winters Menschen in Zelten schlafen müssen".

Die derzeit campierenden unbegleiteten Minderjährigen können Schneider zufolge bis Ende des Monats allerdings in feste Unterkünfte umziehen. Zudem werden kurz vor Weihnachten im Bremer "Kaffee-Quartier" Leichtbauhallen für 400 Menschen errichtet, die die Zeltunterbringung verringern sollen. Eine Zwangseinweisung in Kommunen nach niedersächsischem Beispiel steht für das Land Bremen nicht zu Debatte. Die einzige dafür in Frage kommende Kommune wäre Bremerhaven - zwischen den Städten Bremen und Bremerhaven besteht aber ohnehin eine feste Verteilquote von eins zu fünf. An der, sagt Schneider werde "keiner rütteln".

Ursprünglich wollte Niedersachsen Flüchtlinge in aktuell fünf Erstaufnahmen in Friedland, Bramsche, Braunschweig, Osnabrück und in den Baracken des ehemaligen Bundeswehr-Truppenübungsplatzes Ehra-Lessien bei Wolfsburg registrieren. Doch diese Einrichtungen sind völlig überlastet. Zwar hat das Land seit Anfang September 18.000 weitere Schlafplätze in Notunterkünften geschaffen, doch die Beamten des Innenressorts suchen händeringend weitere Gebäude: „Täglich kommen zwischen 1.000 und 1.500 Flüchtlinge, denen wir ein Obdach bieten müssen“, erklärte ein Ministerialer am Dienstag bei einer Bürgerversammlung in Sumte im Amt Neuhaus an der Elbe. Das Dorf hat nur 103 Einwohner, dort sollen aber bis zu 1.000 Asylsuchende aufnehmen, was zu Protesten führt.

Aktuell leben zwischen Küste und Harz noch immer 4.000 Menschen in Zelten (siehe Kasten), darunter 600 in einem Sommercamp an der sturmgefährdeten Nordseeküste. Im Hamburg demonstrierten Flüchtlinge schon am Dienstag gegen ihre Unterbringung in unbeheizten Zelten. „Uns ist kalt“ war auf Schildern zu lesen.

Besser läuft die Organisation dagegen in Schleswig-Holstein: Zwar erreichen 400 bis 600 Flüchtlinge täglich das nördlichste Bundesland – doch mit zwölf Erstaufnahmen gibt es dort ausreichend Unterkünfte. „Wir leiten keine Flüchtlinge an die Kommunen durch“, sagt der Sprecher von SPD-Innenminister Stefan Studt, Patrick Tiede.

Niedersachsens Flüchtlingsrat fordert unterdessen finanzielle Anreize für Städte, die verstärkt Schutzsuchende aufnehmen. „Warum zahlt das Land diesen Kommunen nicht zehn Prozent mehr“, fragt Geschäftsführer Weber – und verweist auf Leerstände. Außerdem müsse es Flüchtlingen endlich gestattet werden, sich schnell selbst eine Wohnung zu suchen.

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