Flüchtlinge in Kroatien: Grenzort, öffne dich!
Endlich kommen Busse und Züge in Tovarnik an. Tausende Migranten versuchen nun den kroatischen Grenzort zu verlassen.
Noch immer halten sich rund 1.200 Migranten zwischen den letzten Häusern des Dorfs an der serbischen Grenze und dem Bahnhof auf. In Zelten und auf Isomatten oder Decken campieren sie um die alte Fabrik herum und entlang des Weges. Auf einer Wiese stehen Zelte: eins für die Essensausgabe, eins für Material und eins für medizinische Versorgung. Ein Wasserschlauch und Toilettenhäuschen hinter den Fabriksilos schaffen Abhilfe bei den schlimmsten sanitären Problemen.
Das informelle Flüchtlingscamp ist ein Ergebnis der allumfassenden Konfusion dieser Tage: Da öffnet Kroatien zuerst seine Grenze, schließt sie wenig später wieder, um die von Serbien Angekommenen in Tovarnik an der Weiterreise zu hindern, nur um diese am Tag darauf ausgerechnet an die ungarische Grenze zu fahren. Das Nachbarland kann in puncto Ambivalenz mitreden: Es nahm Flüchtlinge an und brachte sie weiter nach Österreich, fuhr zugleich aber fort, an der gemeinsamen Grenze einen weiteren Zaun zu bauen – neben dem fertigen an der serbischen Grenze und dem begonnenen an der rumänischen.
Wie ein Vabanquespiel
Unter solchen Voraussetzungen wird der Grenzübertritt zum Vabanquespiel. Ins serbische Nachbardorf Šid kommt man nicht mehr, die einzige Verbindung nach Serbien ist daher der Hauptzugang über die Autobahn zwischen Zagreb und Belgrad. Dort stauen sich Lkws mehrere Kilometer, und die Polizisten machen eine Meisterschaft daraus, gewöhnliche Autos nach allen Regeln der Kunst auseinanderzunehmen und Gepäckstücke zu analysieren.
Juul, ein syrischer Christ, gehörte zu den letzten, die vor zwei Tagen einfach so hier ankamen, in einem Bus aus Belgrad an die Grenze und dann weiter zu Fuß. Die Polizei registrierte die Migranten, danach strandeten sie erst einmal in Tovarnik. Und Juul, der nun eine Zigarette raucht, erfuhr nicht mehr, als dass es jetzt irgendein Problem in Kroatien gebe. Was für ein Fortschritt ist es dagegen, in dieser Reihe zu stehen und zu warten, bis es nun bald weitergeht, „vielleicht in drei Stunden“. Selbst wenn die Polizisten keine Angabe über das Ziel machen.
Zweifellos ist das ein Paradox: Da besuchen internationale Medien tagelang dieses Städtchen von zweieinhalb Tausend Einwohnern, und machen es zu einem der fettgedruckten Orte auf der neuen Landkarte der Migrantengeografie Südosteuropas. Diejenigen aber, um die es geht, verstehen die Zusammenhänge nicht, die für ihr Vorwärtskommen oder Steckenbleiben den Ausschlag geben. „Es kommt mir vor”, sagt ein Syrer, „als gebe es einen Wettbewerb zwischen den Ländern: Wir sind besser als ihr, wir lassen die Flüchtlinge weiterziehen.”
Gegen halb drei hat sich die Warteschlange niedergelassen und erwartet den nächsten Morgen, wenngleich ohne feste Information über einen weiteren Transport. Dicht aneinandergedrängt liegt es sich ein wenig wärmer, einige sind auch im Sitzen eingeschlafen. Wer noch wach ist, bekommt von Freiwilligen Kekse und Datteln. Im Essenszelt gibt es noch Obst und Baguette. „Kannst du eine Decke und eine Isomatte auftreiben, wir haben hier eine schwangere Frau”, fragt ein Helfer einen Kollegen.
Wie viele hier anpacken, weiß niemand, aber so volatil die Krise in diesen Tagen ist, so verlässlich steuert der internationale Treck ihre neuralgischen Punkte an: Röszke und Horgoš, das Zeltlager in Belgrad, Tovarnik.
Ein Kälteeinbruch steht bevor
Aus dem ungarischen Pécs sind am Abend gleich 12 Medizinstudenten angekommen. Darunter ist auch Benedikt Kleinsässer, 23 Jahre alt. Die nächsten zwei Wochenenden hat er auch schon eingeplant. Erschwert wird im Übrigen auch die Anreise der Helfer, die wegen geschlossener Grenzen zum Teil lange Umwege fahren müssen. Ihm macht eine klimatische Besonderheit Sorgen: Es ist hier in diesem Teil von Europa lange warm. Aber dann wird es plötzlich sehr kalt. In ein paar Wochen wird das der Fall sein.“
Weit hinter der Fabrik beginnt der zweite Teil des Camps, gegen den sich der erste in all seinem Elend beinahe idyllisch ausnimmt. Ein Zelt steht zwischen Müllsäcken und einem Polizeimannschaftswagen, davor wieder Müll, Schuhe und eine steinumrandete Feuerstelle. Stillleben entlang der Balkanroute. Entlang der Schienen ziehen sich viele weitere Zelte am Bahnhofsgebäude vorbei bis zu einem Schuppen. Längst nicht allen, die hier Zuflucht suchen, bietet er Platz, und so liegen schlafende Gestalten dicht gedrängt auf einer schmalen, vorgelagerten Betonreling.
Auch auf und zwischen den Schienen liegen Menschen. Hier und da brennt ein Feuer. Die grellen Lichtmasten lassen die Szenerie gespenstisch erscheinen. Vor dem Schild, das den Bahnhof Tovarnik ankündigt, wehen eine kroatische und eine EU-Fahne – wie ein sarkastischer Verweis darauf, dass die Länder entlang der Balkanroute sich zuletzt gegenseitig vorwarfen, mit einer entgegenkommenden Behandlung der Migranten in Brüssel gutes Wetter machen zu wollen – für ihre angestrebte EU-Mitgliedschaft.
Unterdessen ist spät in der Nacht eine neue Gruppe eingetroffen. Sie bestätigen ein Gerücht, das zuvor schon die Runde machte: Die grüne Grenze ins knapp zwei Kilometer entfernte Šid, am Abend noch unpassierbar, soll geöffnet worden sein. Essensstand und Deckenausgabe seien umgehend betriebsbereit, und auf den freien Plätzen zwischen den Schlafenden werden kurz vor der Dämmerung noch ein paar neue Zelte aufgestellt.
Die Angst, den Zug zu verpassen
Gegen sechs Uhr zeigt der Himmel über dem Bahnhof von Tovarnik erste Konturen. Zwei Freunde aus Erbil, die soeben aus Serbien ankamen, haben schon zwei Nächte lang nicht geschlafen. „Wenn ich die Augen zumache, liege ich sofort hier auf den Schienen”, sagt einer. „Aber dann verpasse ich den Zug.“ Den haben die Polizisten soeben für neun Uhr angekündigt. Ob er nach Slowenien fährt oder nach Ungarn, wissen sie nicht. Klar ist: Dahinter liegt nemsa, wie Syrer und Iraker Österreich nennen. Sobald es hell ist, beginnt das Packen.
Ein neuer Tag, eine neue Etappe, ein neuer Versuch im Vabanquespiel, sich einen Weg durch den Irrgarten sich öffnender und schließender Grenzen zu bahnen. Danach beginnt das Warten. Am Vormittag hat sich weder ein Bus noch der Zug blicken lassen. Ein Syrer, fertig zum Aufbruch, übt sich in Geduld. „Es ist nicht so, dass wir nicht dankbar sind. Wir bekommen Essen und ein Dach über dem Kopf.“ Das „aber“ schwingt in der Stimme mit und bleibt in zwei gedehnten Mundwinkeln hängen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr