Flüchtlinge in Deutschland: Wie wir die Hodzics retteten
Was bei den Syrern so schwierig scheint, war in Bosnien durchaus möglich. Die Initiative „Den Krieg überleben“ evakuierte über 8.000 Menschen.
BERLIN taz | „Angst“ – dieses Wort fällt Alma Hodzic* als Erstes ein, wenn sie sich an den Herbst 1993 erinnert. „Es war seit eineinhalb Jahren Krieg und genauso lange wurde extremer Druck auf uns Nichtserben ausgeübt.“ Über 50 Prozent der 4,4 Millionen Einwohner Bosnien-Herzegowinas waren aus ihren Städten und Dörfern geflohen. Die Hälfte irrte innerhalb des umkämpften Landes umher; die anderen hatten es immerhin ins friedliche Ausland geschafft.
Die damalige Situation der bosnischen Flüchtlinge ähnelt in vielerlei Hinsicht der der Syrer, die heute auf der Flucht vor dem Krieg in ihrem Land sind: Die Lage zwischen den verschiedenen bewaffneten Gruppen im Land ist unklar; und auch auf den ersten Blick vermeintlich sichere Landesteilen können sich quasi über Nacht in gefährliche Brandherde verwandeln.
Alma war 16 und lebte mit ihrer Familie in einer Kleinstadt im serbisch kontrollieren Westbosnien. Dort wurde nicht gekämpft – aber den Hodzics ging es trotzdem nicht gut. Die Mutter, eine Lehrerin, war entlassen worden.
Die Behörden der Serbischen Republik hatten die erklärte Atheistin, langjähriges Mitglied der kommunistischen Partei Jugoslawiens, wegen ihrer muslimischen Vorfahren als unzuverlässig eingestuft. Dabei hatten die Hodzics nicht, wie so viele Nachbarn mit muslimischem Namen, bei der serbischen Machtübernahme ihre Heimat verlassen, um in sichere, von der bosnischen Armee kontrollierte Gebiete zu fliehen. Der Vater, ebenfalls Kommunist, wollte den neuen Herrschern zeigen, dass er kein islamischer Fundamentalist war, sondern ein loyaler Bürger.
Ausreisen mit Bussen
Doch die glaubten ihm nicht. Erst verlor Herr Hodzic seine Arbeit. Dann wurde er von der Armee der bosnischen Serben eingezogen. Dort erhielten die abfällig als „Türken“ bezeichneten „muslimischen“ Soldaten zwar dieselben Uniformen wie die serbischen – aber keine Waffen. So mussten sie Schützengräben ausheben. In Sichtweite der bosnischen Linien. Als lebende Zielscheiben.
Währenddessen spitzte sich auch zu Hause die Situation zu. „Wir bekamen dauernd Besuch von der serbischen Polizei“, erzählt Alma. „Erst nahmen sie unser Auto – als freiwillige Spende für ihre Armee. Später wollten sie den Kühlschrank, dann den Fernseher. Und fragten immer öfter, wann das Haus endlich leer sein würde.“
Dann sollte Almas Vater erneut zur Armee. „Das ging auf keinen Fall, er hatte schon den ersten Einsatz gerade so überlebt hatte“, erinnert sich die heute 37-Jährige. „Uns wurde klar, dass wir aus Bosnien raus mussten.“ Aber wie? Individuell reisen durften Nichtserben in der Serbischen Republik nicht. Über Verwandte hatten die Hodzics von einer Hilfsorganisation gehört, die Ausreisen mit Bussen organisierte.
„Den Winter überleben“
Die Initiative „Den Krieg überleben“ war im Jahr zuvor in Bonn von einem Aktionsbündnis gegründet worden. Motor war der Journalist Martin Fischer, der zuvor bei Recherchen Zeuge der brutalen ethnischen Säuberung in Serbisch-Bosnien geworden war. Angesichts der internationalen Friedensbemühungen war Fischer damals sicher, dass der Krieg bald zu Ende sein würde. Wie heute in der verwirrenden Kriegslage in Syrien ging es auch in Bosnien darum, bis dahin so viele Menschenleben wie möglich zu retten.
Am 15. Dezember 1992 erschien in der taz unter der Überschrift „Den Winter überleben“ ein Aufruf. Privatpersonen, Kirchengemeinden, Friedens- und Menschenrechtsgruppen sollten sich melden, wenn sie bereit wären, Flüchtlinge aus Bosnien zu sich einzuladen – unter Übernahme aller Kosten. Bei Kriegsbeginn hatten die deutschen Innenminister eine Visapflicht für Bosnier eingeführt. Um ein Visum zu bekommen, brauchten diese Menschen nun eine Einladung einer in Deutschland gemeldeten Person.
Der Haken: Die Einladenden mussten eine Kostenübernahme unterschreiben, die jede noch so große Arztrechnung einschloss. Trotz dieses Risikos meldeten sich Hunderte potenzielle Gastgeber. Nur zwei Wochen nach dem Aufruf kam die erste Gruppe Flüchtlinge an. Doch der Krieg endete nicht, wie Fischer und seine Mitstreiter gehofft hatten, mit dem Winter. Im Gegenteil: Die Lage in Bosnien wurde in den folgenden Monaten immer schlimmer. Und immer mehr Menschen waren bedroht.
Nach Kriegsende 1996 zurück
„Den Krieg überleben“ mietete ein ehemaliges Kulturhaus in einer kroatischen Kleinstadt nahe der bosnischen Grenze. Dort warteten zeitweise 550 der über 8.000 Menschen vor allem muslimischer und kroatischer Abstammung, die die NGO bis Kriegsende Anfang 1996 aus dem serbisch besetzten Bosnien evakuierte, darauf, dass Gastgeber für sie gefunden wurden – darunter die Hodzics, die im Frühjahr 1994 in einem der Busse Martin Fischers über die bosnische Grenze gebracht worden waren.
An die Fahrt erinnert sich Alma auch über 20 Jahre später nur ungern. „Es war ein Horrorfilm: Dauernd wurden wir kontrolliert, und dabei wurde uns jedes Mal noch etwas abgenommen. Am Schluss haben die serbischen Grenzer sogar den Kindern im Bus ihre Schokolade ’konfisziert‘.“ Es dauert noch sechs Monate, bis Martin Fischer endlich eine Familie gefunden hatte, die bereit war, die Hodzics aufzunehmen.
„Zuerst haben wir in einem kleinen Dorf gelebt“, erinnert sich Alma, „das war gut, weil ich dort schnell Deutsch lernen musste.“ Sie ging aufs Gymnasium, machte Abitur und studierte Germanistik. Heute ist sie deutsche Staatsbürgerin, hat zwei Kinder, einen deutschen Nachnamen und arbeitet als Lehrerin.
Die Eltern sind nach Kriegsende 1996 zurück in ihre Kleinstadt gegangen. „Sie sind Rentner“, berichtet Alma, „die wirtschaftliche Lage ist katastrophal, von den Renten kann man gerade mal die Nebenkosten bezahlen. Gut, dass ich im Ausland lebe und sie unterstützen kann.“ Was empfindet sie heute, wenn sie an ihre Flucht, Martin Fischer und „Den Krieg überleben“ denkt? „Dankbarkeit“, sagt Alma Hodzic ohne zu zögern.
* Vor- und Nachnamen der Personen geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten