Flüchtende in der EU: Keine Ruhe auf Lesbos
Auf der griechischen Insel wird über ein geplantes Flüchtlingslager gestritten. Der Protest vereint Rechte und Linke.
M itten im Landesinneren von Lesbos, am Ende einer kilometerlangen Schotterstraße und fernab der Küsten der pittoresken Ägäisinsel, kreisen Hunderte kreischende Möwen über einem riesigen Haufen Abfall. Der Gestank von verbranntem Plastik, Verwesung und Exkrementen liegt in der Luft. Wenn es nach der griechischen Regierung geht, soll genau hier, in dem hügeligen Waldstück neben der Müllkippe, außerhalb der Sichtweite der lokalen Bevölkerung und der Tourist*innen, ein geschlossenes Aufnahmelager für bis zu 3.000 Geflüchtete entstehen.
„Diesen Ort zu wählen war von Anfang an falsch. Ich glaube nicht, dass Menschen weniger als einen Kilometer von der Müllkippe entfernt leben sollten“, sagt Charambolos Tzelaidis, der parteilose Bürgermeister von Mantamados, einer der angrenzenden und doch kilometerweit entfernten Gemeinden. Der untersetzte Mittfünfziger, der sich gerne in Rage redet und immer eine Packung rote Marlboro griffbereit hat, sitzt an seinem Schreibtisch in seinem kleinen Büro in der Gemeindeverwaltung an der Hauptstraße.
Sorge bereitet dem Bürgermeister und Feuerwehrmann auch der Wald um das Gelände. „Das stellt eine große Brandgefahr dar. Denn wenn der Wald Feuer fängt, breitet es sich unkontrolliert aus“, sagt Tzelaidis. Ein solcher Brand sei aufgrund der dichten und hohen Bäume sehr schwer zu löschen. Das sei eine Gefahr für die gesamte Insel, so Tzelaidis.
Der Bürgermeister von Mantamados sagt, er sei nicht gänzlich gegen die Aufnahme von Geflüchteten. Natürlich brauche es ein kleines Zentrum zur Bearbeitung der Ankommenden. Das müsse aber in Absprache mit der lokalen Bevölkerung geplant und beschlossen werden. Ein riesiges 240-Hektar-Areal sei da schon eine andere Sache. Das Lager ist eines von fünf geplanten derartigen Camps auf den ägäischen Inseln. Eröffnet wurde bis jetzt lediglich das Lager auf Samos. Die aktuell etwa 1.200 auf Lesbos lebenden Geflüchteten kommen zurzeit im Camp „Mavrovouni“ an der Westküste der Insel unter, was übersetzt „der schwarze Hügel“ heißt.
Im Winter peitscht hier der Meereswind ungeschützt über die Insel. Im Sommer grillt die Sonne die Bewohner*innen. Bäume, die Schatten spenden könnten, gibt es auf dem Gelände kaum. Mavrovouni ist ein ehemaliger Truppenübungsplatz direkt am Wasser. Vieles erinnert hier noch an die frühere militärische Nutzung des Geländes. In den Hügeln gegenüber richten mit Tarnnetzen versteckte Geschütze ihre Rohre direkt auf das Camp. Im Boden fanden die Bewohner*innen immer wieder Reste von Munition, wie Bilder belegen.
Die riesige Zelt- und Containerstadt gleicht einem Gefängnis. Meterhoher, mit Nato-Draht gesäumter Zaun schirmt das Gelände ab. Vor dem Eingang stehen Polizisten der Aufstandsbekämpfungseinheit MAT mit Schutzschilden in den Händen. Auch auf dem Gelände patrouilliert die Polizei. Journalist*innen ist der Zugang nicht frei möglich, und das Fotografieren des Militärgeländes ist verboten. Selten gibt es geführte Pressetouren. Laut Journalist*innen vor Ort bleibt dabei kaum Zeit, um sich mit den Bewohner*innen zu unterhalten, freie Berichterstattung ist kaum möglich.
Zahra Nazari, Geflüchtete aus Afghanistan, über das Leben im aktuellen Lager
Die Bewegungsfreiheit der Campbewohner*innen, die vor allem aus Afghanistan stammen, ist seit zwei Jahren bereits stark eingeschränkt. „Wir dürfen nur einmal in der Woche das Camp verlassen und rausgehen“, sagt Zynabe Akhlagi, die seit über drei Jahren auf Lesbos lebt. Mit der taz treffen sie und ihre Freundin Zahra Nazari sich abseits des Camps. Beide heißen eigentlich anders, haben aber Angst vor Verfolgung und wollen deswegen anonym bleiben. Beide leben in Mavrovouni.
Ihr gehe es aktuell nicht gut, sagt Akhlagi. „Ich bin sehr depressiv und war öfter bei einem Psychologen. Er sagt, viele der Geflüchteten haben diese Probleme“, so Akhlagi. 2019 sei sie aus Afghanistan geflohen, weil ihr Wunsch gewesen sei, in Sicherheit zu leben und Lehrerin oder Ärztin zu werden. „Ich will, dass meine Kinder es besser haben als ich und in die Schule gehen können“, sagt sie der taz. Ihrer Freundin Zahra Nazari geht es ähnlich. Nazari will vor allem lernen. Das ist für Frauen in ihrem Herkunftsland Afghanistan vor allem seit der Machtübernahme der Taliban unmöglich. Auch sie erzählt, sie sei durch den massiven Druck des Lagerlebens an Depressionen erkrankt.
Im Camp könne man jeden Tag den Tod, aber auch das Leben sehen, so Nazari. „Hier lebe ich ständig mit Angst und Hoffnungslosigkeit“, sagt sie über ihren Alltag. Es geschähen immer wieder schreckliche Ereignisse. So hat es etwa mehrfach gebrannt. Die medizinische und hygienische Versorgung sei außerdem unzureichend, so Nazari. Ein Kind ihrer Nachbar*innen sei nach einer OP schon am nächsten Tag entlassen worden. Danach sei das Kind gestorben.
Die Aussagen der Frauen sind nur schwer zu überprüfen. Journalist*innen haben keine Möglichkeit, frei im Camp zu recherchieren und die unmittelbaren Lebensbedingungen der Geflüchteten zu dokumentieren. Asyl haben die beiden Frauen bisher nicht erhalten. Mehrfach sprach Nazari mit den griechischen Behörden – bisher ohne Erfolg. „Wir werden so behandelt, als ob wir ein großes Geschwür wären“, so Nazari.
Dabei gibt es auf Lesbos immer noch viele, die sich einen menschenwürdigen Umgang mit Geflüchteten wünschen und diesen praktisch umsetzen. Solidarische Strukturen wie das Community Center der Organisation „One Happy Family“ bilden den Gegensatz zum Konzept der griechischen Regierung im Umgang mit Geflüchteten. „One Happy Family“ wird von griechischen, schweizerischen und deutschen Vereinen getragen. Auf dem Gelände herrscht aufgeregt-fröhliches Treiben. Im großen Aufenthaltsraum des Zentrums tanzen Unterstützer*innen und Geflüchtete gemeinsam zu arabischer Musik. Auf einem Volleyballplatz spielen überwiegend junge Männer. Immer im Blickfeld, auf dem Hügel gegenüber, liegt das Lager Mavrovouni.
„Wir glauben, dass das Camp eine ziemlich deprimierende Angelegenheit ist. Die Leute brauchen einen Ort, an dem sie sich und ihre persönliche Kreativität entfalten können“, so Nicolas Perrenoud, ein Schweizer, der sich vor Ort um Koordinationsarbeit kümmert. „Wir haben jeden Tag offen und es gibt eine ganze Reihe von verschiedenen Angeboten“, erzählt Perrenoud. Im Zentrum gebe es Kaffee, freien Zugang zum Internet, Ladestationen für Telefone, psychologische Dienste, verschiedene Sprachkurse, einen Garten und eine offene Werkstatt. Dort können Geflüchtete ihre Telefone, Fahrräder oder Haushaltsgegenstände reparieren.
Die kleine Hütte mit der Werkstatt, dem so genannten „Maker’s Desk“, schmiegt sich an den Hang. Hier sitzt Tahere Faisi und näht an einem Stück Stoff. Die 55-Jährige ist seit sechs Monaten auf Lesbos. „Hier ist es viel besser als im Camp“, sagt sie. Fahrradteile stapeln sich an den Wänden. In der Ecke spielt jemand Videospiele. Zwei junge Männer haben ein Laufrad eingespannt und prüfen, ob die Speichen verzogen sind. Nazir Ahmed und Roman Sharouchki sind beide noch nicht lange auf Lesbos. Nach kurzer Zeit haben sie die ersten Ablehnungen ihrer Asylgesuche erhalten. Hier vertreiben sie sich die Zeit.
„Ein geschlossenes Lager ist schlicht und einfach ein Gefängnis, auch wenn man vielleicht versucht, gute Wohnmöglichkeiten zu bieten, und einen Spielplatz baut. Das täuscht nicht darüber hinweg, dass es außen herum mit Stacheldraht eingezäunt ist und einer grauen Wüste gleicht“, so Perrenoud. Das sei einfach nicht mit europäischen Werten vereinbar.
Mittlerweile ist die Organisation „One Happy Family“ nach Athen umgezogen und hat das Zentrum auf Lesbos an den griechischen Träger „Parea“ übergeben, der den Betrieb in kleinerem Rahmen fortführt. Mit der Errichtung einer geschlossenen Camp-Struktur würde das Konzept des offenen Zentrums wohl keinen Sinn mehr ergeben. Die Bewohner*innen sollen das neue Camp nicht verlassen dürfen, sobald ihr Asylgesuch zweimal abgelehnt wurde. Pläne versprechen eine Schule, Sportmöglichkeiten und Unterbringung auf dem umzäunten Gelände. Das Camp und seine Bewohner*innen sollen mit High-Tech-Equipment überwacht werden. Die neue Fläche „Vastria“ liegt außerdem Dutzende Kilometer von jeglicher Zivilisation entfernt.
Seit 2020 kündigt die griechische Regierung unter Kyriakos Mitsotakis den Baubeginn immer wieder an und muss diesen dann immer wieder verschieben. Zuletzt hieß es, das neue Camp hätte im Herbst vergangenen Jahres eröffnet werden sollen. Die Einwohner*innen von Lesbos verhindern aber aus unterschiedlichsten Gründen jegliche Baumaßnahmen – und gehen dabei teils militant vor.
Dabei sind nicht alle Bewohner*innen der Insel per se gegen eine Aufnahme Geflüchteter. Als im Sommer 2015 Hunderttausende an den Küsten im Norden der Insel mit Booten aus der nur acht Kilometer entfernten Türkei ankommen, ist die Insel Lesbos und auch die Gemeinde Mantamados eine Station auf einer der großen Routen der Migration nach Europa. Die Bewohner*innen organisieren Hilfe, spenden Kleidung, kochen Essen und sorgen für notdürftige Unterkunft. Nach und nach kommen immer mehr Freiwillige und Hilfsorganisationen aus der ganzen Welt. Die Zahl der Geflüchteten steigt in den folgenden Jahren immer weiter, da diese die Insel bis zum Abschluss ihres Asylverfahrens nicht verlassen dürfen. Bis zu 20.000 Menschen leben im und um das Camp „Moria“.
Verschwörungserzählungen machen unter der griechischen Bevölkerung die Runde. Die Hilfsorganisationen würden die Boote von Geflüchteten ferngesteuert über die Meerenge leiten oder stünden im Auftrag von geheimen Mächten, die Griechenland destabilisieren wollen, heißt es immer wieder in einem typisch antisemitischen Narrativ – auch vom Bürgermeister der Gemeinde Mantamados, Tzelaidis. Die Spannungen auf der Insel bauen sich über die Jahre unaufhörlich auf. Der Frust entlädt sich schlagartig, als die griechische Regierung im Februar 2020 Land beschlagnahmen will, um auf dem Gemeindegrund von Mantamados ein neues geschlossenes Camp zu errichten.
Quer durch alle politischen Lager führt diese Entscheidung zu einer breiten Mobilmachung. Der Zufahrtsweg zur geplanten Baustelle wird mit Fahrzeugen blockiert. Als mehrere hundert Aufstandsbekämpfungseinheiten mit der Fähre im Hafen von Mytilini anlegen, kommt es zu tagelangen gewaltsamen Auseinandersetzungen. Ganz vorne mit dabei: der lokale Klerus und die Bürgermeister der umliegenden Dörfer. So auch Tzelaidis, der den Mob anführt. Bei den Zusammenstößen gibt es zahlreiche Verletzte, sie enden erst, als die Polizei abzieht und die Regierung zusichert, in Verhandlungen zu treten.
Extrem Rechte nutzen das Machtvakuum, um über Monate Straßensperren zu errichten und ein Klima der Angst zu schaffen. Journalist*innen, NGO-Mitarbeiter*innen und Geflüchtete werden attackiert und vertrieben. Heute finden erste Prozesse gegen die Angreifer*innen statt, die sich aber noch über Jahre ziehen können. Ob die gewaltsamen Taten ein juristisches Nachspiel haben werden, scheint fraglich. Erst nachdem Moria im September 2020 niederbrennt, verringert sich die Anzahl der Geflüchteten auf der Insel stetig. Viele erhalten nach teils jahrelanger Wartezeit Asyl und dürfen die Insel verlassen. Damit entspannt sich die Stimmung.
Der Kampf der lokalen Bevölkerung gegen die Errichtung des neuen geschlossenen Lagers geht unterdessen weiter. Als im Februar dieses Jahres Baumaschinen anrollen, machen die Inselbewohner*innen wieder mobil und ziehen demonstrierend zu der geplanten Baustelle. Einige zünden die gerade abgeladenen Bagger und Lkws kurzerhand an. Die Polizei verhaftet in den nächsten Tagen fünf Personen, denen die Brandstiftung vorgeworfen wird. Der Wille, dass so etwas wie Moria nie wieder auf Lesbos existieren dürfe, eint auch heute noch Rechte wie Linke.
Es gehe nicht um rechts oder links
Auf dem Sappho-Platz in der Inselhauptstadt Mytilini, der nach der von Lesbos stammenden antiken Dichterin benannt ist, sammeln sich Ende Februar zum Jahrestag der Ausschreitungen und der „Schlacht um Karavas“, wie einige die Tage nennen, Hunderte Demonstrant*innen. Auch Tzelaidis ist mit anderen Bewohner*innen aus Mantamados mit einem Bus angereist. Eisig heult der Wind über den Hafen von Mytilini.
Aus den Boxen dröhnt traditionelle griechische Musik. Ob Fans der extrem rechten Goldenen Morgenröte oder der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE), alle sind sich einig: Ein neues geschlossenes Lager – ein „Gefängnis“, wie es viele hier nennen – wird es auf Lesbos nicht geben. Dass einige hier gegen Geflüchtete allgemein demonstrieren und andere für einen besseren Umgang mit diesen, scheint niemanden zu stören.
Dabei versuchen die Teilnehmer*innen, auch auf Nachfrage, die konträre Position des eigentlichen politischen Gegners gekonnt zu ignorieren oder kleinzureden. Es gehe nicht um rechts oder links, heißt es etwa von einem Parteisekretär der KKE, während wenige Meter weiter bekannte extrem rechte Demonstrant*innen eine riesige griechische Fahne aufspannen. Die eigentlich am anderen Ende des politischen Spektrums zu verortende Gruppe „Lesvos Solidarity“, die Geflüchtete und bedürftige Inselbewohner*innen unterstützt, schreibt derweil in einem Aufruf zur selben Kundgebung: „Die kriminelle Politik der Festung Europa ist unverzüglich einzustellen und an der Aufnahme- und Integrationspolitik unter Achtung der Menschenrechte und an Maßnahmen zur Bekämpfung von Fluchtursachen zu arbeiten.“
Hauptredner ist an diesem Tag der parteilose Regionalgouverneur der Nordägäis, Kostas Moutzouris. Gegenüber der taz sagt Moutzouris: „Wir versammeln uns heute hier, um gegen die Pläne der Europäischen Union zu demonstrieren, die die Inseln zu einer ‚Pufferzone‘ machen will.“ Mit markigen Worten heizt er die Stimmung vom Rednerpult der Kundgebung an. Er preist etwa die griechische Küstenwache für die Verteidigung des griechischen Hoheitsgebiets und der europäischen Außengrenze. Das ist Lob für Menschenrechtsverletzungen und auch möglicherweise Mord, wie Journalist*innen immer wieder durch Recherchen offenlegen.
Die in den letzten Jahren weiter sinkende Zahl Geflüchteter auf der Insel hat auch damit zu tun, dass nicht mal die Hälfte aller Menschen, die in ein Boot steigen, das Lager auf Lesbos je erreichen. In sogenannten Pushbacks setzt die griechische Küstenwache laut Recherchen des Spiegels und der Organisation Lighthouse Reports immer wieder Menschen, die eigentlich schon europäischen Boden betreten hatten, auf Rettungsinseln auf dem offenen Meer aus und überlässt sie ihrem Schicksal. Immer wieder ertrinken dabei Menschen. Offizielle Stellen bestreiten die Praxis.
Wenn Geflüchtete denn ankämen, könne man die schon unterbringen, heißt es weiter in der Rede von Moutzouris. Klar sei, dass man keine permanenten Super-Camps wolle. Der Regionalgouverneur erinnert an den letzten Versuch, vor genau zwei Jahren den Baubeginn für das neue Lager durchzusetzen. „Die Menschen haben Widerstand geleistet und sie haben den Bau gestoppt“, so Moutzouris.
Das Areal, auf dem das neue Lager in Zukunft gebaut werden könnte, besteht aus einem Privatgelände und einem „Natura 2000“-EU-Naturschutzgebiet. Bis heute befindet sich hier fast nur unberührte Natur. Schlammige Wege für Kühe und Ziegenböcke durchziehen die karge Landschaft.
Im dornigen Gestrüpp, das den gesamten Boden bedeckt, verfängt sich hier und dort etwas von der Deponie herübergewehter Plastikmüll. Das Niemandsland „Vastria“ wirkt auf Fotos beinahe idyllisch. Noch lässt nichts in der Talsenke vermuten, dass hier bald eine Art Gefängnis entstehen soll. Wenn es nach den Bewohner*innen von Lesbos geht – Einheimische, Geflüchtete oder NGO-Mitarbeiter*innen –, soll das auch erst mal so bleiben.
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