: Fluchtpunkt Tijuana
Die Einwohner der mexikanischen Grenzstadt scheinen ständig auf dem Weg nach Kalifornien oder kommen von dort zurück, und mit ihnen reisen jährlich dreißig Millionen US-Touristen ein
von EGBERT HÖRMANN
Hätten wir auf Orson Welles gehört, der mit „Im Zeichen des Bösen“ eindringlichst vor dieser fatalen Falle warnt, würden wir jetzt nicht in Tijuana herumhängen und darauf warten, dass in diesem „Paradies für Sünder“ etwas Episches geschieht, etwa, dass wir Sex haben werden. Aber nun bin ich mit vier Jungs von der Marine unterwegs, und nach der halbstündigen Straßenbahnfahrt von San Diego aus haben wir an der Grenze sofort ein Taxi direkt zur Avenida Revolución genommen. Denn wir sind auf der Suche nach der Eins-a-Dröhnung, wie sie auch die arme Janet Leigh im Film verpasst bekommt. Der einzige Mexikaner, den wir treffen wollen, ist das Klischee des augenrollende Hombre mit dem Caramba-Schnauzer, der Tequila aus einem halben Meter Entfernung in dein Maul schüttet. Und wenn du dich unbedingt als Mann fühlen willst, solltest du deine Arschbacken zusammenkneifen und eines der Mädels zum Tanz auffordern, und du hast die feste Absicht, dies bald zu tun, aber jetzt warten wir erst noch auf eine fette Karaffe Bier.
Tijuana, die am schnellsten wachsende Stadt Mexikos, vermittelt den Eindruck eines riesigen Durchgangslagers: Ein Drittel der zirja zwei Millionen Einwohner ist ständig auf dem Weg nach Kalifornien oder kommt von dort zurück, andererseits kommen jährlich rund dreißig Millionen US-Touristen nach Tijuana und machen die Stadt zur meistbesuchten der Welt.
Es ist 21 Uhr in einer Gringo-Disko, und wir sind auf Stufe zwei im Banne des Tequilas. Stufe eins: Ich bin reich. Stufe zwei: Ich sehe gut aus. Stufe drei ist erreicht, wenn die Typen, die dir den Tequila in den Rachen schütten, dich am Haar packen und deinen Kopf als Cocktail-Shaker benutzen und dabei in ihre Trillerpfeifen blasen: Jetzt bist du kugelsicher, ja unsterblich. Vielleicht fragst du jetzt eines der Mädels, ob es tanzen will. Aber klar doch! Und wie bestellt gleitet ein Jennifer-Lopez-Modell in einem langen, hochgeschlitzten Kleid aus roten und silbernen Pailetten auf mich zu und gurrt „Hi, macho boy …“ direkt zwischen meine Beine und zerrt mich auf die Tanzfläche … wo ich es bei einer längeren Trockeneisattacke verliere.
Aber jetzt nur keine Traurigkeit aufkommen lassen, denn wir sind in Tijuana! Tijuana, der größte Grenzübergang der Welt, ist der eskapistische Fluchtpunkt für die amerikanische Imagination seit Billy the Kid. Clark Gable und Bing Crosby schlüpften über die Grenze nach Tijuana. James Dean entspannte hier bei einem lost weekend. Hier tanzte Rita Hayworth, als sie noch Margarita Carmen Cansino war, mit ihrem Vater in den respektableren Etablissements. Charlie Mingus kam hierher, um eine Ehefrau zu vergessen, und schrieb „Tijuana Moods“, ein Tongedicht mit Mariachibläsern und kastagnettenklappernden, auf dem Tresen tanzenden Señoritas, aber eigentlich war es Herb Alperts Tijuna Brass, der die Hitparaden und die einfachen Herzen eroberte. Hier verpassen sich südkalifornische Kids ihren ersten Rausch, ihr erstes Hurenhaus, ihre erste Barschlägerei, ihren ersten schnellen Trip zur Polizei, ihre erste Erfahrung mit Schmiergeld – Reisen, sagt man, erweitert den Horizont.
Tijuanas Abstieg begann vor etwa zwanzig Jahren, als der Peso kollabierte. Das Leben macht weniger Sinn, wenn dein Geld schneller verfault als dein Obst, und plötzlich boomte in der Baja California die Prosperität, weil die Region den USA näher war als das restliche Mexiko. Die Einwohner von San Diego fuhren über die Grenze, um ihr Gemüse zu kaufen oder um sich die Zähne machen zu lassen, und alles, was sie wollten, war ein preisgünstiges Miniamerika. Die Gringos drehten schier durch bei dem Gedanken, was man in Mexiko für einen Yankee-Dollar bekam, und Tijuana war immer bereit, sie zufrieden zu stellen. Die Avenida wurde sauberer und weniger mexikanisch, und den US-Touristen gefiel Mexiko immer weniger.
Je mehr ihre Dollars bedeuteten, desto genauer wussten sie, dass alle Mexikaner nur auf ihr Geld scharf waren. Zu dieser Zeit begann aber auch der Aufstieg in der Freihandelszone, der Tijuanas dirty little secret birgt. Der wirtschaftliche Wohlstand der Stadt (eine Wachstumsrate von 6 Prozent, dreimal höher als der nationale Durchschnitt) beruht auf den maquiladoras, ausländischen Fabriken, in denen eingeführte Halbfertigwaren zu Fertigprodukten und zum Export verarbeitet werden. Die Niedriglöhne haben zum Entstehen von 600 Fabriken geführt; mehr als 40 Prozent aller mexikanischen maquiladoras befinden sich im Großraum Tijuana.
Und es boomt auch ein anderes Geschäft: die illegale Immigration. Die pollos (illegale Grenzgänger in spe) bezahlen an die coyotes (Menschenschmuggler) bis zu 2.000 Dollar, um über die Grenze nach Kalifornien gebracht zu werden – ohne Garantie natürlich. Etwa 90 Prozent der jährlich drei Millionen illegalen Grenzübertritte finden im kalifornischen Grenzabschnitt statt – die weltweit höchste Konzentration illegalen Grenzverkehrs. Der 1994 von der Clinton-Administration geschaffene „Tortilla-Vorhang“ ist zwar hoch gesichert, aber dennoch durchlässig. Wie sehr das illegale Überqueren Alltag geworden ist, beweisen auf dem Interstate Highway 5 zwischen San Diego und Los Angeles aufgestellte Verkehrsschilder, die vor größeren Menschengruppen warnen, die wie eine Fata Morgana urplötzlich den sechsspurigen Highway überqueren könnten …
Auf der Avenida Revolución aber sorgt man diskret und glatt dafür, dass den Gringos der Spaß nicht verdorben wird. Die bettelnden Indio-Kids sind wie Fliegen einfach nur lästig, ebenso die Türsteher der Klubs, aber die können zumindest Englisch. „Homo Bar!“, warnen sie und zeigen auf das daneben liegende Lokal, wenn sie aus ihren Eingängen hervorschießen, um die Gringo-Girls in ihr Lokal zu ziehen, bevor andere Türsteher sie zu fassen bekommen: „Dort ist Homo-Bar!“ Es sind nicht diese perfekt ondulierten, perfekt trainierten, perfekt gebräunten und überall blonden Baywatch-Nymphen, sondern eher deren etwas aufgequollene Schwestern. Oder es sind Babes, die zu jung sind, um in San Diego saufen zu dürfen, und es hier im Schnellverfahren lernen wollen. Sie watscheln wie Entchen überglücklich die Avenida hinunter, weil sie sowohl von den Türstehern als auch den amerikanischen Jungs umworben werden, die sie zu Hause keines Blickes würdigen würden. Sie trinken, bis sie überlegen und cool sind und wie Britney Spears aussehen, aber der süße Typ, auf den sie ein Auge geworfen hatten, wird gerade unmissverständlich aus dem Lokal befördert, weil er das vierte Tequila-Stadium erreicht hat, das glauben macht, unsichtbar zu sein; aber da hat er sich getäuscht. Entnervt zupfen die Mädels an ihren BHs und bestellen noch eine Runde, ebenso wie die Jungs von der Marine, die sie jetzt ins Visier nehmen.
Von Sonne und Regen ausgeblichene Papiergirlanden, auf den Patios baumelnde Vogelbauer: Die alte Grenzstadt gibt es immer noch, abseits der Avenida, aber kaum ein Gringo verirrt sich in diese Gefilde. Hier spürt man die Präsenz des Indianischen, den sinnlichen Puls der Stadt, ihre erotische Dimension. Hier zeigt sich ihr Mexikanität mit ihrer Vorliebe für Schmuck, mit ihrer Manana-Unbekümmertheit, Gelassenheit, Prachtliebe, Leidenschaft und Zurückhaltung. Hier riecht es nach Tacos, geköpften Hühnern, Chili, Radieschen und verschwitztem Cerveza-Gelächter, und die Musik, die aus den Bars erklingt, ist mexikanisch, Cumbias, Rancheros, Huapangos, Boleros, nicht der Diskopop der Touri-Bars. Hier sitzt man neben ein paar Nutten, die froh sind, dass man sie mit ihrem Kaffee allein lässt. Ein Eisverkäufer zieht im Nebel zwischen den Taxis seinen Wagen nach Hause. Ja, es ist trotz all der Säuberungen auf der Avenida für die gabacho turistas immer noch eine Grenzstadt, wo jeder, der nichts verkauft, etwas kauft oder sich wünscht, es nicht gekauft zu haben.
Als Samstagnacht und Sonntagmorgen zur Corrida antreten, haben die realistischeren Marineangehörigen eingesehen, dass sie es nicht riskieren werden, ein kalifornisches Traumboot zum Tanz zu bitten. Ich selbst sitze allein in einer Stripteasebar und trinke Carta Blancas, als wie ein Traum unter Wasser die im Trockeneis Verlorene auf mich zugleitet. Bald windet sie sich auf meinem Schoß, und sie – wie war noch der Name? „Conchita“ – schiebt mir ihre Zunge ins Ohr, sie greift zwar leidenschaftlich nach meiner Hand, aber es gelingt mir dennoch, sie ihr zwischen die Beine zu schieben, um festzustellen, dass mich dort eine Überraschung erwartet.
Ja, vielleicht sollten wir einfach alle nach Hause gehen, wo das auch sein mag, jedenfalls gibt es dort keine großen Überraschungen. Das ganze Unglück des Menschen beruht nach Pascal darin, dass er nicht ruhig in seinem Zimmer bleiben kann, und dort könnte man etwa „Das Labyrinth der Einsamkeit“ von Octavio Paz oder „Unter dem Vulkan“ von Malcom Lowry lesen, wenn man wirklich an Mexiko interessiert ist.
Das Taxi kann uns nur an die Grenze bringen, nicht in die USA, und während wir im fahlen Licht an Souvenirständen, Schnapsbuden und Kaugummi verkaufenden Kindern vorbeischwanken, sehe ich, wie ein amerikanischer Teenager eines dieser Kleinen zur Seite stößt. Seine Freundin findet das saukomisch, aber ein Mexikaner in seinem Alter tritt auf ihn zu und tritt ihm kräftig in den Arsch. Der Amerikaner stolpert, fällt aber nicht hin. Das Pärchen ist fast an der Grenze, und das Girl, das so dämlich betrunken ist, das es fast aus seinem Stretchlurexfummel fällt, kreischt: „Ihr dreckigen, ordinären Bohnenfresser! Ihr habt doch nicht für einen Cent Stil!“ Ihr Freund will keine Schlägerei riskieren und zerrt sie in Richtung Grenze. „Ihr dreckigen, ordinären Bohnenfresser! Nicht für einen verfickten Cent Stil!“, zetert sie abschließend, während sie über die rettende Grenzlinie in „Gods own country“ torkelt.
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