Flucht wegen Boko Haram: Die Kinder träumen von Rache
Der Krieg der Islamisten hat tausenden Schulkindern im Grenzgebiet zwischen Nigeria und Kamerun ihre Heimat und ihre Familien geraubt. Ein Besuch.
Baigai taz | Bienvenue Ngatsebai hat mit angesehen, wie seine Eltern und zwei seiner Brüder starben. Versteckt in einem Baum konnte er nur hilflos zugucken, wie die Kämpfer der islamistischen Terrorarmee Boko Haram vor zwei Jahren in sein Dorf Mabasbaru einfielen. Drastisch spielt er an seinem kleinen Bruder neben ihm vor, wie seine Angehörigen zu Tode kamen: Mit der linken Hand packt er den Kopf und reißt ihn nach hinten; mit der rechten führt er eine rasche Schnittbewegung quer über die Kehle. „So haben sie meine Eltern und Brüder getötet“, erzählt er. „Sie waren mit Gewehren gekommen, aber dann entschieden sie sich für Macheten.“
Heute ist Bienvenue 15 Jahre alt, sein kleiner Bruder 7. Jetzt leben sie 40 Kilometer entfernt von ihrem Heimatdorf bei ihren Großeltern, im Ort Baigai. Sie brauchten sieben Tage durch den Busch, um dorthin zu kommen. Sie sind zwei von 600 Schülern einer Grundschule des UN-Kinderhilfswerks Unicef, die für Boko-Haram-Flüchtlingskinder in Baigai eingerichtet worden ist – eine von 25 UN-Schulen, die von einem EU-Projekt für Flüchtlingskinder im Norden Kameruns gefördert werden sollen. Bisher ist Baigai die einzige, die zugänglich ist – noch herrscht Krieg in Nordkamerun.
Die meisten Kinder in dieser Schule sind Flüchtlinge aus Nigeria, deren Eltern von den Islamisten getötet oder verstümmelt wurden. Aber es gibt auch Kameruner, seit Boko Haram vor zwei Jahren begann, seinen Krieg über Nigerias Grenzen hinaus in die Nachbarländer auszudehnen. Heute ist die Terrorgruppe militärisch stark geschwächt, aber die Verwüstungen, die ihr Krieg angerichtet hat, sind nicht überwunden.
Gouldé Kouleh und Bohoy Tekoltom, 8 und 7 Jahre alt, sind gemeinsam aus Nigeria hierher gelaufen. Sie waren am Fußballspielen, als Boko Haram angriff. Sie versteckten sich im Busch. Als sie sich wieder heraustrauten, war niemand mehr da. Sie mussten sich allein auf den Weg machen. Irgendwie haben sie es geschafft.
Jetzt malen sie Bilder, um ihre Erlebnisse zu verarbeiten. Die „Children of Peace Initiative“ der EU finanziert Malstunden für traumatisierte Kriegskinder in 17 Ländern mit 700.000 US-Dollar. 30.000 Kinder davon kommen im Norden Kameruns in den Genuss. Es werden Lehrer ausgebildet, die psychosozialen Bedürfnisse der Kinder zu erkennen, friedliches Verhalten einzuüben und Diskriminierung sowie Stigmatisierung entgegenzutreten. Manche Kinder brauchen besondere Zuwendung und werden in spezialisierte Therapiezentren gebracht, erklärt Daniela Luchiani vom Unicef-Kinderschutzprogramm.
Irgendwann selbst stark sein
Gouldé hat einen kräftigen General gemalt. Wenn er groß ist, will er Soldat werden, erzählt der Achtjährige: „Nur ein Soldat kann Boko Haram stoppen, damit sie keine Leute mehr töten.“
Die meisten dieser Flüchtlingskinder malen sich selbst am liebsten als Soldaten, in Armeeuniformen und mit Hubschrauber. Was Kinder normalerweise in Nigeria und Kamerun als Beruf anstreben – Lehrer, Arzt, Ingenieur, Viehbesitzer, Journalist –, interessiert nur wenige. Sie malen Bilder von Horrorszenen und möchten irgendwann selbst stark sein.
„Diese Leute haben meine Eltern getötet. Ich möchte Soldat werden und gegen sie kämpfen“
Rache an den Terroristen war auch das Hauptmotiv bei einer Malstunde unter den 14.000 Flüchtlingskindern im Vertriebenenlager Minawao. Der 13-jährige Ndouvna Hecheked zeichnete einen Terroristen, der einem Mann den Kopf abschneidet und dabei selbst im Kugelhagel eines Soldaten steht. „Diese Leute haben meine Eltern getötet“, erklärt er sein Bild. „Sie haben uns gezwungen, unser Land zu verlassen. Ich möchte Soldat werden und gegen sie kämpfen und wieder nach Hause gehen.“
Die Lehrer tun ihr Möglichstes, um die Kinder daran zu erinnern, dass es noch andere erstrebenswerte Dinge im Leben gibt. „Aber immer wenn wir sie fragen, was sie werden wollen, sagen sie fast alle ‚Soldat‘ oder ‚BIR‘ [die Antiterror-Spezialeinheit der kamerunischen Armee, Anm. d. Red.]“, seufzt die Lehrerin Veronica Mokojo. „Im Unterricht sind sie dann ganz in sich gekehrt. Sie können das, was sie erlebt haben, nicht bewältigen.“
2.600.000 Menschen sind seit 2014 durch den Krieg zwischen Boko Haram und den Armeen Nigerias, Kameruns, Nigers und Tschads vertrieben worden. 2,2 Millionen davon sind in Nigeria auf der Flucht, die meisten in der Provinz Borno. Die Hälfte von ihnen sind Kinder.
567.000 Flüchtlinge sind in Kamerun registriert. 65.000 stammen aus Nigeria, 190.000 sind Binnenvertriebene.
475.000 Kinder in der Region sind vom Tod bedroht, weil es keine Gesundheitsversorgung mehr gibt und Lebensmittel knapp werden, warnt das UN-Kinderhilfswerk Unicef. Sein Hilfsappell für 308 Mio. US-Dollar sei nur zu 13 Prozent finanziert.
20.000 Kinder in Nordostnigeria haben ihre Familien verloren.
Mehrere hundert Kinder wurden von Boko Haram entführt, unter anderem in Chibok, und bleiben spurlos verschwunden.
86 Kinder hat Boko Haram als Selbstmordattentäter eingesetzt.
Fernand Pokam, ein Psychologe des kirchlichen Hilfswerks CRS (Catholic Relief Services) mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, sagt, das sei völlig normal. „Diese Kinder haben mit angesehen, wie ihre Familien abgeschlachtet wurden. Möglicherweise wurden sie selbst vergewaltigt von den Angreifern oder auch von Soldaten. Das Trauma kann sehr lange währen.“
Es gibt Ausnahmen. In der Grundschule Baigai malt Wandala Djakome zwar ebenfalls Soldaten, die Terroristen erschießen. Aber sein Kommentar dazu ist: „Wenn der Krieg vorbei ist, will ich Bauarbeiter werden. Boko Haram hat so viel kaputtgemacht. Sie haben Menschen getötet, Häuser zerstört und Märkte abgebrannt. Ich möchte das alles wiederaufbauen.“