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Foto: Lucas Landau

Flucht aus VenezuelaDie Aussicht auf Glück

Viele Ve­ne­zo­la­ne­r*in­nen fliehen vor Armut und Korruption ins Nachbarland Brasilien. Sie landen trotz Arbeitserlaubnis oft auf der Straße. Warum?

Niklas Franzen
Von Niklas Franzen aus Pacaraima, Boa Vista und Santa Elena De Uairén

G abriel Brito blickt zu einem kleinen Hügel, rund 100 Meter entfernt. Dahinter liegt sein altes Leben, dort liegt Venezuela. Brito, 28, hagere Statur, steht an der brasilianischen Grenze. Vor drei Stunden hat er sein Land verlassen. „Ich habe alles aufgegeben, um hier zu sein“, sagt Brito. Es war am Ende nicht mehr viel, was ihn noch in Venezuela hielt – oder anders gesagt: Hunger und wirtschaftliche Not waren größer. Also ergriff Brito die Flucht. Wie so viele seiner Landsleute in den letzten Jahren.

Die Geschichte des südamerikanischen Landes ist die Geschichte eines spektakulären Absturzes. Noch vor nicht allzu langer Zeit blühte dank des Ölgeschäfts Venezuelas Wirtschaft. Doch der Fall des Rohölpreises und Misswirtschaft stürzten das Land im vergangenen Jahrzehnt in eine schwere Krise. Internationale Wirtschaftssanktionen haben die Situation noch verschlimmert. Heute hungern viele Venezolaner*innen, auch die Menschenrechtslage ist katastrophal.

Brito lehnt an einer Absperrung, sucht Schutz vor der Sonne. In einer Schlange stehen Frauen, Männer und Kinder. Einige sitzen auf Reisetaschen, fast alle wirken erschöpft. Soldaten wuseln umher, notieren Namen, sammeln Ausweise ein. Jeden Tag kommen in Pacaraima, ganz im Norden Brasiliens, Hunderte Ve­ne­zo­la­ne­r*in­nen an. Direkt neben dem Grenzübergang liegt eine gigantische Zeltstadt. Es ist ein Ankunftszentrum, betrieben vom brasilianischen Staat und den Vereinten Nationen.

Mit brüchiger Stimme erzählt Brito seine Geschichte. Geboren und aufgewachsen ist er in Ciudad Guayana, im Nordosten Venezuelas, rund 15 Busstunden entfernt. Dort arbeitete er als Straßenverkäufer. Sein Einkommen habe kaum zum Überleben gereicht. Auch die medizinische Versorgung sei miserabel gewesen. „Wir mussten unsere eigenen Medikamente in den Krankenhäusern mitbringen.“ Weil die kleine Tochter es einmal besser haben soll, entschieden er und seine Frau sich dazu, wegzugehen. Sie verkauften ihre Habseligkeiten, lösten ein Busticket in Richtung Grenze. In den Süden Brasiliens wollen sie. Dort gebe es Arbeit, habe Brito gehört. Er würde aber auch woanders hingehen. Hauptsache, weg aus Venezuela.

In den letzten Monaten hat sich die Situation in dem südamerikanischen Land zwar etwas entspannt. Die USA lockerten inzwischen die Sanktionen gegen die Ölindustrie – wohl auch, weil es seit dem Ukrainekrieg wieder größeres Interesse an venezolanischem Rohöl gibt. Der amtierende Präsident Nicolás Maduro erklärte, noch in diesem Jahr freie Wahlen zu ermöglichen. Dennoch wollen viele weg. Die seit Jahren anhaltende Misere hat zu einem Exodus aus dem Land geführt. Laut Schätzungen des UN-Flüchtlingshilfswerks haben 7,7 Millionen Menschen das Land seit Beginn der Krise verlassen – rund ein Fünftel der Bevölkerung. Es ist die derzeit größte Migrationsbewegung der Welt. Der große Nachbar im Süden, Brasilien, ist zu einer beliebten Wahl geworden. 510.000 Ve­ne­zo­la­ne­r*in­nen leben laut Brasiliens Regierung im Land; nur in Kolumbien, Peru und den USA sind es mehr. 175.000 Ve­ne­zo­la­ne­r*in­nen waren laut Zahlen der UN-Flüchtlingshilfe 2022 als asylsuchend registriert.

Eine Arbeitserlaubnis ist einfach zu bekommen, es gibt humanitäre Hilfe sowie staatliche Programme für die Neuangekommenen. Brasilien sieht sich selbst als Vorzeigeland im Umgang mit den Migrant*innen. Nur, stimmt das auch?

Gabriel Brito aus Venezuela, kurz nach Überqueren der Grenze zu Brasilien, am 25. Januar Foto: Lucas Landau

Mattia Bezze zieht einen Riegel zur Seite, schiebt das schwere Stahltor auf. „Herzlich willkommen!“ Bezze, 47, ist Italiener. Er ist lässig gekleidet, Sportsandalen, T-Shirt. Nur das dicke Kreuz um den Hals verrät seine Profession. Bezze ist Pater. Vor zwei Jahren schickte ihn das Bistum Padova nach Brasilien, genauer gesagt nach Pacaraima. Das lebendige Städtchen liegt direkt an der Grenze zu Venezuela.

In Brasiliens Mega­schlachthöfen schuften viele Venezolaner*innen. Die Löhne sind niedrig

Bezze marschiert über einen Hof, öffnet die Tür zu einem kahlen Raum. Dort stehen ein paar Plastikstühle in der Ecke, in der Mitte ist ein kleiner Altar. Die Kirche wirkt wenig sakral. „Viele der Gläubigen kommen aus Venezuela. Manchmal halten wir die Messe auf Spanisch“, erzählt Bezze. In Pacaraima hört man heute kaum noch Portugiesisch auf der Straße. Innerhalb einer Dekade ist die Bevölkerung um 85 Prozent gewachsen. Natürlich laufe nicht alles perfekt, sagt Bezze. Es gebe Vorurteile, die Bedingungen in den Ankunftszentren könnten besser sein. „Aber im Vergleich mit Europa haben es die Flüchtlinge hier sehr gut.“

Tatsächlich erhalten registrierte Geflüchtete in Brasilien die gleichen Rechte wie die einheimische Bevölkerung. An der Grenze bekommen sie eine Steuernummer sowie alle weiteren nötigen Dokumente zur Weiterreise. Sie können arbeiten, die Schule besuchen, erhalten kostenlose Gesundheitsversorgung. Die brasilianische Regierung hält sich an die sogenannte Erklärung von Cartagena aus dem Jahr 1984, welche eine Erweiterung der Genfer Flüchtlingskonvention darstellt, die den Flüchtlingsstatus dann begründet sieht, wenn jemand im eigenen Land politisch verfolgt wird. Lateinamerikanische Länder haben damals vereinbart, den Flüchtlingsbegriffs auf Personen auszuweiten, die vor Konflikten und Unruhen fliehen.

Ab 2014 flammten in ganz Venezuela immer wieder Proteste gegen die Regierung auf – angetrieben von der rechten Opposition und den USA. Sicherheitskräfte und An­hän­ge­r*in­nen der Opposition lieferten sich Straßenschlachten. Hunderte Menschen starben auf beiden Seiten. Tausende wurden verletzt, etliche Menschen verhaftet. Viele gaben die Hoffnung auf, ihr Land verändern zu können.

Als 2018 massenhaft Ve­ne­zo­la­ne­r*in­nen ihr Land verließen, startete Brasiliens damalige Regierung unter Interimspräsident Michel Temer ein ehrgeiziges Programm: die Operação Acolhida. Der Name bezieht sich auf ein brasilianisches Wort: acolher. Das kann als „empfangen“ oder „willkommen heißen“ übersetzt werden. Brasilien ist stolz auf seine Gastfreundschaft, die Offenheit gegenüber Fremden. Aber die Regierung sah sich 2018 auch gezwungen, die Migration zu lenken.

Brasiliens Staat steckt umgerechnet rund 2,6 Millionen Euro jeden Monat in das Programm. Im Vergleich zu Europa ist das Thema übrigens weit weniger emotional aufgeladen: Es spielt in der öffentlichen Debatte kaum eine Rolle.

Die Operação Acolhida kümmert sich neben der direkten Versorgung auch darum, Mi­gran­t*in­nen mit ihrer Zustimmung auf andere Bundesstaaten zu verteilen. Es gibt sogar Deals mit Flug- und Busgesellschaften, registrierte Geflüchtete erhalten kostenlose Tickets. 120.000 Ve­ne­zo­la­ne­r*in­nen nutzten das Programm bisher und ließen sich in anderen Bundesstaaten nieder.

„Wir müssen aufpassen, keine Abhängigkeiten zu schaffen“: Mattia Bezze, Pater in Pacaraima Foto: Lucas Landau

Auch Pater Bezze hilft, wo er kann. Einige der Mi­gran­t*in­nen kommen völlig erschöpft ins Land, teilweise unterernährt. Im Nachbarhaus betreibt seine Gemeinde ein kleines Informationszentrum. Hier erhalten Mi­gran­t*in­nen Auskunft, sie bekommen Bustickets oder können einfach mal kurz durchatmen. Auf einem kleinen Tisch liegen ein paar Malbücher für Kinder.

Ein junger Mann mit Gesichtstattoos und blond gefärbten Haaren sitzt auf einem Plastikstuhl. Er heißt Jesús Avila, ist 29, dreifacher Vater. „In Venezuela werden viele Gesetze nicht umgesetzt, Korruption ist ein großes Problem“, sagt er. Er habe „ehrliche Arbeit“ gemacht als Marktverkäufer, in den Bergwerken. Der Lohn habe aber kaum gereicht, um seine Familie zu ernähren. Sein Vater lebe bereits in Brasilien, ebenso seien die Brüder dort. Seit 15 Tagen warte er auf seine Dokumente. Wenn er alles beisammen hat, will er weiterreisen. Sein Traum? Als Musikproduzent zu arbeiten.

Im Vergleich mit Europa haben es die Flüchtlinge hier sehr gut

Mattia Bezze, Pater und Flüchtlingshelfer in Pacaraima

Wie Avila zieht es die meisten Mi­gran­t*in­nen in den Süden und Südosten des Landes. Die Regionen sind wohlhabender, es gibt Arbeitsplätze in der Industrie. Gerade in den gigantischen Schlachthöfen schuften viele Vene­zo­laner*in­nen. Die Löhne sind niedrig, die Arbeit ist schwer. Es sind Jobs, die viele Brasilianer nicht wollen. Und die Ve­ne­zo­la­ne­r*in­nen verdienen weniger. Das macht diese attraktiv für Firmen. Daneben gibt es viele kulturelle Schnittpunkte, die die Integration leichter machen.

Viele Mi­gran­t*in­nen an der Grenze sind dankbar für den Neustart in Brasilien. Die Menschen seien freundlich, kaum jemand habe Probleme gehabt. Viele brasilianische Geschäftsbetreiber in Pacaraima freuen sich sogar über die vielen Neu­bür­ger*in­nen – denn sie beleben das Geschäft in der verschlafenen Region. Einige sagen: In einem so großen Land wie Brasilien hätte es Platz für ein paar Zehntausend hermanos und hermanas – „Brüder“ und „Schwestern“ – aus Venezuela.

Nicht immer wurden die Ve­ne­zo­la­ne­r*in­nen jedoch mit so offenen Armen empfangen. Im August 2018 griff in Pacaraima eine aufgebrachte Menge ein Flüchtlingslager an. Sie warfen Steine, brannten Zelte nieder, verprügelten Mi­grant*in­nen. Auslöser war ein Überfall auf einen brasilianischen Händler. Hunderte Menschen flohen nach der Gewalt zurück nach Venezuela. Seitdem hat es aber keine größeren Vorfälle mehr gegeben. Man hat sich arrangiert, so scheint es, und in vielen Fällen sogar zusammengefunden. Aber es gibt immer noch Vorbehalte. Brasilien durchlebte ebenfalls mehrere Wirtschaftskrisen. Einige fürchten billige Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt durch die Mi­gran­t*in­nen aus dem Norden. Während in den ersten Jahren viele gut ausgebildete Ve­ne­zo­la­ne­r*in­nen nach Brasilien kamen, sind es nun überwiegend Menschen ohne höheren Schulabschluss.

Auch Pater Bezze bekam die Vorbehalte zu spüren. „Viele Brasilianer haben sich von unserer Kirche abgewendet, weil wir den Migranten helfen“, sagt er. Vor einigen Wochen brach jemand in die Kirche ein. In den WhatsApp-Gruppen waren die Schuldigen schnell ausgemacht: „Sie machten die Venezolaner verantwortlich, ohne irgendwelche Beweise.“

Bezze geht in sein Haus. Ein geräumiges, aber einfaches Gebäude mit nackten Böden. Heiligenfiguren gaffen von den knallgrünen Wänden. In einer Ecke stapeln sich Lebensmittelpakete. Manchmal hilft Bezze dem Militär, die Pakete zu verteilen. Reis, Bohnen, Öl, nur das Nötigste. „Natürlich wollen wir denen helfen, die nichts haben“, sagt Pater Mattia. „Aber wir müssen aufpassen, keine Abhängigkeiten zu schaffen.“ Einige Mi­gran­t*in­nen lebten seit vier, fünf Jahren von staatlicher Hilfe und täten nichts. Das könne dem gesellschaftlichen Klima im Land schaden, glaubt Bezze.

Zwanzig Minuten dauert es mit dem Auto nach Santa Elena de Uairén. Sobald man den Grenzposten überquert, merkt man: Hier ist Venezuela. Überall hängen Nationalfahnen, Porträts des Unabhängigkeitskämpfers Simón Bolívar, an einer Wand prangen drei Wörter: „Nicolás Maduro Presidente“. Auf den ersten Blick wirkt Santa Elena de Uairén aufgeräumt, fast schon idyllisch. Die Regale im Supermarkt sind voll, die Preise nicht höher als in Brasilien. Unweit eines mit Bäumen gesäumten Platzes sitzt Jesuita Fabian in einem verglasten Büro.

Die Mittvierzigerin kommt aus der Dominikanischen Republik, sie lebt in Venezuela, seit sie zwölf Jahre alt ist. „Ich bin Patriotin, ich bin Revolutionärin und bei mir ist die Macht Christus.“ Für sie ist die Sache klar: Die meisten Mi­gran­t*in­nen gehen weg, weil sie nicht arbeiten wollen und in Brasilien Sozialleistungen einstreichen wollen. „Schmarotzer“ nennt sie diese Leute. Fabian ist eine quirlige Frau, sie lacht viel, gestikuliert beim Sprechen wild umher. Sie ist Mitglied der Regierungspartei PSUV und Sprecherin in einem sogenannten Consejo Comunal. Die Räte sollten es Bür­ge­r*in­nen ursprünglich erlauben, über die Verwendung von Geldern zu entscheiden. Ein basisdemokratisches Experiment, geschaffen unter Hugo Chávez.

Ein Foto des Ex-Präsidenten steht auf Fabians Schreibtisch. „Er war ein großer Anführer. Nicht nur für Venezuela, sondern für die ganze Welt.“ Daneben steht eine Puppe: Nicolás Maduro als Superman. Es gibt eine von der Regierung produzierte Zeichentrickserie, in der Maduro mit vermeintlichen Superkräften seinen Geg­ne­r*in­nen aus Opposition und US-Regierung trotzt. Die Regierung startete damit eine Kampagne, um das angeschlagene Image des Präsidenten aufzupolieren. „Er führt das Erbe von Chávez weiter“, sagt Fabian diplomatisch. So richtig zufrieden wirkt auch sie nicht.

Viele machen Maduro für die Probleme im Land verantwortlich. Nach Chávez’ Tod gewann er die Wahl. Doch dem 61-Jährigen fehlt es an Charisma und dem Geschick seines Vorgängers. Hyperinflation und Versorgungsengpässe prägten ab 2016 das Land. So musste Maduro etliche chavistische Errungenschaften zurücknehmen. Für viele Sozialprogramme war schlicht kein Geld mehr da.

Venezuela versucht sich derzeit zwar mit Handelsbeziehungen zu China und Russland unabhängiger vom Westen zu machen. Allerdings liegt die Wirtschaft immer noch am Boden. Ein Mindestlohn reicht schon lange nicht mehr zum Überleben. Und Maduros Führungsstil ist zunehmend autoritär. Die prominentesten Re­gie­rungs­geg­ne­r*in­nen dürfen bei der kommenden Wahl nicht kandidieren. Mitte Februar verkündete Maduro außerdem, das lokale Büro des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte aus dem Land zu werfen. Einige nennen Venezuela eine Diktatur. Fabian sieht das anders. „Man kann hier schlecht über den Präsidenten sprechen und nichts passiert. Was für eine Diktatur ist denn das?“

Jesuit Fabian, Lokalpolitikerin und Bürgerrätin in Santa Elena de Uairén: harsche Kritik an denen, die das Land verlassen Foto: Lucas Landau

Natürlich gebe es Probleme im Land, sagt sie. Die Kriminalität sei hoch, die Löhne seien niedrig. Aber im Ausland gebe es eine völlig falsche Vorstellung von Venezuela. Wer an diesem Zerrbild schuld sei? „Die Yankees!“ Viele Berichte über das Land seien „westliche Propaganda“. Das größte Problem seien die Wirtschaftssanktionen. Sie führten dazu, dass Venezuela nicht vorankomme. „Aber die meisten von uns hier arbeiten und suchen nach einem Weg, um das Land voranzubringen.“ Ein Seitenhieb auf diejenigen, die das Land verlassen haben.

Viele Ve­ne­zo­la­ne­r*in­nen verschlägt es in die Landeshauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Roraima. Von der Grenze führt die Bundesstraße 174 in den Süden. Die Region zählt zu Amazonien, aber die Vegetation hat nur wenig mit dem Klischeebild zu tun. Statt dichten Regenwalds findet sich hier eine bergige Savannenlandschaft. An vielen Ausfahrtsstraßen stehen Holzschilder, sie markieren die Zufahrten zu indigenen Gemeinden. Gemessen an der Bevölkerung leben in keinem anderen brasilianischen Bundesstaat mehr Indigene als in Roraima. In letzter Zeit siedelten sich jedoch viele Ve­ne­zo­la­ne­r*in­nen in ihren Gebieten an. Sie errichteten dort Baracken aus Wellblech und Holz, an einigen Orten führt das zu Problemen. Denn die indigenen Gebiete sind eigentlich streng geschützt.

Zeltstädte für 10.000 Menschen

Probleme gibt es auch in Boa Vista. Die Stadt am Rio Branco hat etwas über 400.000 Einwohner. Boa Vista, was gute Aussicht bedeutet, ist eine unspektakuläre Stadt, ohne nennenswerte Sehenswürdigkeiten. Im Südwesten der Stadt, direkt neben dem Busbahnhof, liegen die Ankunftszentren der Operação Acolhida: Zeltstädte, die rund 10.000 Menschen Platz bieten. In den Mittagsstunden stehen Hunderte Menschen in der Essensschlange. Viele NGOs sind hier aktiv, das Kommando hat das Militär. Mit der Presse will man hier nicht reden, Besuchsanfragen bleiben unbeantwortet. Ein junger Soldat vor einer Kaserne äußert sich dann doch. Weiterhin kämen jeden Tag Hunderte Menschen hier an, sagt er. Einige seien völlig mittellos. Er meint: Kein anderes Land kümmere sich so gut um diese Menschen wie Brasilien. Doch nicht alle wüssten die Gastfreundschaft zu schätzen. Viele würden kriminell, die Gewalt habe zugenommen.

Trotz des günstigen rechtlichen Rahmens stoßen venezolanische Flüchtlinge auf Hindernisse. Auf dem formellen Arbeitsmarkt haben sie oftmals aufgrund von Sprach- und Kulturbarrieren keine Chance. Etliche Menschen bleiben in Boa Vista stecken. Überall in der Stadt hausen Mi­gran­t*in­nen auf der Straße, in Zelten, kleinen Baracken, auf dem nackten Asphalt. Abends blitzen die Crackpfeifen auf. Einige nutzen die Not der Ve­ne­zo­la­ne­r*in­nen aus. Mehrfach musste die Polizei Mi­gran­t*in­nen aus sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen befreien. Auf dem Bau schuften viele für einen Hungerlohn. Es gibt Berichte über Schmugglerbanden, die Mi­gran­t*in­nen ausrauben und Frauen in die Prostitution zwingen.

Tânia Soares Souza empfängt in ihrem Büro, Küsschen zur Begrüßung, ein Foto für die sozialen Medien. Sie ist Roraimas Senatorin für Arbeit und Soziales. Über dem Schreibtisch hängt ein Porträt des Gouverneurs Antonio Denarium, ein Verbündeter des Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro. Der Rechtsradikale hat viele Fans in der Region. Goldgräber, Landwirte und Holzfäller zählen zu seinen treusten Anhänger*innen. Auch viele Ve­ne­zo­la­ne­r*in­nen hielten bei der letzten Wahl zu Bolsonaro. Sein Antikommunismus und das Gerede von der „Venezuelanisierung Brasiliens“ kamen gut bei ihnen an.

Soares ist parteilos, sie war mal Kultursenatorin. „Wir sind ein Bundesstaat von Migranten“, sagt sie. In den 1970er Jahren zogen Zehntausende aus dem hungergeplagten Nordosten in die abgeschiedene Gegend. Die Hoffnung damals: ein Stück Land, ein besseres Leben. Auch Soares zog es vor 38 Jahren aus der Hauptstadt Brasília nach Boa Vista. „Es liegt in der DNA der Menschen hier, den Neuankömmlingen zu helfen“, glaubt sie. Diskriminierung und Xenophobie seien Einzelfälle.

Am Anfang habe der Zuzug der Ve­ne­zo­la­ne­r*in­nen viele überfordert, gibt Soares zu. Aber man habe schnell Maßnahmen beschlossen, Integrationsprogramme aufgelegt: Es gebe etwa Kurse für junge Mütter, und ein Projekt für straffällig gewordene Jugendlichen.

Manchmal könnte die Zusammenarbeit zwischen Bund und Landesregierung besser laufen, sagt Soares. Die Operação Acolhida habe einige Schwachpunkte. In den Massenunterkünften seien besonders gefährdete Gruppen nicht ausreichend geschützt: Frauen, Kinder, LGBTQI. Ihre Regierung unterstütze eine Reihe von Programmen, um diesen Menschen zu helfen.

Und die wachsende Kriminalität? Wenn man die Bevölkerung vergrößere, sei es normal, dass auch die Kriminalität zunehme, meint sie pragmatisch. Zum Abschied sagt Soares: „Wir profitieren von der Migration, nicht nur kulturell. Auch ökonomisch sind die Migranten mittlerweile ein großer Faktor in der Region.“

Drei Wochen nach seinem Grenzübertritt schickt Gabriel Brito, der Migrant aus Ciudad Guayana, eine Sprachnachricht. Es gehe ihm gut, sagt er, er habe es inzwischen bis nach Boa Vista geschafft, alle benötigten Dokumente zusammen. Es gefalle ihm in Brasilien. Nun muss er noch Arbeit finden.

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1 Kommentar

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

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  • Ein guter Bericht (und als Kenner der erwähnten Städte und der Region insgesamt, darf ich das so sagen). Was nun "Denn die indigenen Gebiete sind eigentlich streng geschützt" betrifft: Ich weiss nicht wie das "eigentlich" gemeint ist, denn Tatsache ist, dass dieser Schutz abseits vom Gesetzespapier nirgendwo weniger existiert, als in Roraima. Und das in einem gesamt-brasilianischen genozidären Kontext! Wo jene die Macht haben (Bundesstaaten, Kongress) die die Ansicht Bolsonaro's teilen, dass die Indigenenfrage endgelöst sein sollte (um deren Gebiete "wirtschaftlich zu machen").