Fleisch aus Massentierhaltung: Ein Siegel für mehr Stallfläche
Ein neues Siegel für artgerechter erzeugtes Fleisch soll die Verbraucher überzeugen. Der Tierschutzbund kooperiert dafür mit Großkonzernen.
WIETZENDORF taz | Die Mastschweine in Christoph Beckers Stall im niedersächsischen Wietzendorf haben ein Drittel mehr Platz als gesetzlich vorgeschrieben und allgemein üblich: 1,1 Quadratmeter pro Tier. Außerdem schützt eine durchgehende Betonplatte die geruchsempfindlichen Tiere in einer Hälfte des Stalls vor dem Fäkaliengestank aus den Güllekanälen unter dem Boden. Aus einem Metallrohr hinten links in der Box können die Schweine mit dem Maul Strohpellets ziehen, damit sie beschäftigt sind und sich aus Langeweile nicht gegenseitig verletzen. Die männlichen Tiere sind nicht oder nur unter Betäubung kastriert.
All das sind Kriterien des Siegels „Mehr Tierschutz“ des Deutschen Tierschutzbundes, das die Organisation am Mittwoch kurz vor der weltgrößten Agrarmesse Grüne Woche in Berlin präsentiert. Denn in diesen Tagen kommt das erste Schweine- und Hühnerfleisch mit dem blau-weißen Siegel in die Läden – darunter bei so großen Firmen wie Lidl, Netto oder Kaiser’s Tengelmann. Einer dieser Lieferanten ist Bauer Becker.
Das Siegel knüpft an Bedenken gegen eine Agrarindustrie an, die Tiere nach Meinung vieler Verbraucher mehr Leid zufügt, als es für die Erzeugung von Fleisch-, Eier- und Milchprodukten nötig ist. 77 Prozent der Konsumenten würden einer Umfrage zufolge Fleisch aus artgerechter Haltung bevorzugen, berichtet der Schlachthauskonzern Vion, der einen Teil seiner Produkte mit dem neuen Siegel auszeichnen lässt.
Umweltschützer versprechen sich neben mehr Tierschutz auch, dass die Preise steigen und deshalb Fleischkonsum und -produktion abnehmen. Das würde helfen, den Treibhausgas-Ausstoß für den Futteranbau zu senken. Zudem könnten die Kalorien in Soja und Getreide mehr Menschen ernähren, wenn die Ernte direkt gegessen und nicht erst an Tiere verfüttert würde.
Tatsächlich ist das Fleisch mit dem Tierschutzlabel erheblich teurer: Wer weniger Tiere in seinem Stall unterbringt, kann auch weniger verkaufen und muss das durch höhere Preise ausgleichen.
In der Hühnermast schreibt das Siegel zudem langsamer wachsende Tierrassen vor. Denn konventionelle Geflügelarten setzen so schnell Fleisch an, dass das Skelettwachstum nicht mehr nachkommt und die Tiere ständig unter Schmerzen leiden. Und ein Huhn, das länger lebt, frisst auch mehr teures Futter.
„Ein frisches ganzes Hähnchen kostet den Verbraucher etwa 4,79 bis 4,99 Euro pro Kilogramm – rund 30 Prozent mehr als ein konventionelles“, sagt Josef Bachmeier, Manager bei Deutschlands größtem Geflügelfleischlieferanten Wiesenhof, der 28 seiner Farmen vom Tierschutzbund zertifizieren lässt. Für Hähnchenteile wie etwa Brustfilets würden sogar 40 bis 70 Prozent mehr fällig.
Doch das ist immer noch billiger als ein Hähnchen, das nach der EU-Bio-Verordnung oder den Regeln des Neuland-Programms mit ihren noch strengeren Tierschutzauflagen gehalten worden ist. Bei Bio etwa beträgt der Preisaufschlag gegenüber einem ganzen Hähnchen aus normaler Produktion satte 150 Prozent. Branchenexperten halten die Differenz für eine der Ursachen, weshalb das artgerechter erzeugte Bio- und Neuland-Fleisch nur einen Marktanteil von etwa einem Prozent hat.
Wegen dieser Marktlage, meint Thomas Schröder, Präsident des Tierschutzbundes, müsse Fleisch mit einem Label her, das billiger ist und von mehr Landwirten in den bestehenden Ställen erfüllt werden kann. Dafür ist er sogar bereit, mit so umstrittenen Konzernen wie Wiesenhof und Vion zusammenzuarbeiten, die in der Vergangenheit durch Tierquälerei aufgefallen sind. „Man muss das tun. Es gibt Strukturen, an denen wir nicht vorbeikommen, wenn wir die Lage nicht nur einzelner, sondern vieler Tiere verbessern wollen, sagte Schröder der taz.
Schmerzhafter Kompromiss
Dafür, dass der Absatz mit dem neuen Siegel höher wird, spricht einiges: Vion schätzt, dass in drei, vier Jahren 10 bis 15 Prozent des Schweinefleisches in deutschen Läden aus besonders tierfreundlicher Haltung kommen wird.
Tatsächlich nehmen Discounter und die Supermarktkette Real nach eigenen Angaben schon jetzt bundesweit „Mehr Tierschutz“-Produkte ins Sortiment auf. Dabei sind auch Filialen in Baden-Württemberg, Berlin und Brandenburg der Ketten Edeka und Reichelt. Schon bald könnten weitere Läden folgen. Diese Erfolgsaussichten unterscheiden das Label auch etwa von dem „Tierschutz kontrolliert“-Siegel der kleineren Organisation „Vier Pfoten“, das nur wenig bekannt ist.
Für den erhofften Verkaufserfolg ist Schröder schmerzhafte Kompromisse eingegangen. Alle bisher gelabelten Produkte haben nur die niedrige Variante des Siegels – mit einem Stern. Von Auslauf ins Freie etwa können Ein-Stern-Tiere nur träumen. Zwar hat der Tierschutzbund auch eine anspruchsvollere Zwei-Sterne-Variante entworfen, die dem Bio- und Neulandstandard ähnelt. Sie verlangt zum Beispiel vier Quadratmeter Platz im Freien für jedes Huhn. Aber sowohl Vion als auch Wiesenhof räumen ein, dass sie diese Version noch nicht einmal anstreben.
Bio-Bauern dagegen müssen ihren Tieren Auslauf gewähren. Deshalb kritisieren viele Ökos das neue Label. „Die Ein-Stern-Variante muss tatsächlich ein Einstieg bleiben, damit die Zwei-Sterne-Version schnell in die Breite kommt. Sonst wäre das Label nicht mehr als ein Mäntelchen über unhaltbare Zustände“, sagt der Vorstandsvorsitzende des Bunds Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW), Felix Prinz zu Löwenstein.
Ausdrücklich hebt er hervor, dass Bio-Tiere nur Futter bekommen dürfen, das ohne umweltschädliche Pestizide und Kunstdünger angebaut worden ist.
„Mehr Tierschutz“-Bauer Becker hingegen kauft Futter aus konventioneller Landwirtschaft. Er verfüttert an seine Schweine sogar Soja, die meist aus Südamerika stammt – obwohl dort für Futterpflanzen-Felder Urwald gerodet wird. „Sonst“, sagt Becker, „wird das Fleisch viel teurer und der Verbraucher kauft es einfach nicht.“
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