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Flaschengeist und Zeitgeist

Weine können wunderbar altern. Dann verändern sich Farbe, Duft und Geschmack – ein faszinierendes Spiel. Aber längst nicht alle Tropfen sind für die lange Reise durch Jahre und manchmal Jahrzehnte gerüstet

von URSULA HEINZELMANN

Mit gespannter Erwartung geht’s in die Probierstube. Der erste Wein schmeckt meist ein wenig dürftig. Ausführliche Erklärungen des Winzers folgen. Die Weine werden immer charaktervoller, leckerer, spannender, es kommt echte Begeisterung auf. Die allerdings ermutigt den Winzer, „noch etwas ganz Besonderes zu zeigen“. Mit andächtiger Stille wird aus der Schatzkammer eine dunkelgelbe, sirupartige Flüssigkeit in Kleinstmengen ausgeschenkt – und dann heißt es: Haltung bewahren und höflich bleiben! Denn das klebrigsüße Zeug – Beerenauslese, Trockenbeerenauslese oder Eiswein – ruiniert das Erlebnis zuvor und wird doch als Krönung präsentiert, mit ach wie viel Mühe gelesen. Meine ersten Weinproben verliefen alle nach diesem Schema.

Viele Jahre ging das so, bis zu jenem wunderbaren Tag im Juli 1993, als mir die Ehre zuteil wurde, an einer Probe alter Weine beim Mosel-Weingut Johann Josef Prüm in Wehlen teilnehmen zu dürfen. Manfred Prüm, der heutige Besitzer (siehe übernächste Seite), hatte eine lange Reihe schlammstaubiger Flaschen vorbereitet.

Der erste Wein war eine Auslese aus dem Jahr 1921. Er funkelte in kraftvollem Van-Gogh-Gelb, duftete nach Minze und feuchter Kellermauer, schmeckte leicht sahnig und beeindruckte weniger als Wein als durch die Tatsache, dass er über 40 Jahre älter war als ich selbst. Wir gingen zu einem 43er über, der an Steinpilze erinnerte, taten den 52er und 51er als „ein wenig zu alt“ ab, während der darauf folgende 58er wirklich jugendlich wirkte. Das steigerte sich noch beim 60er, und bei der 49er „feinen Auslese“ notierte ich: „Absolut erstaunlich, noch Entwicklungspotenzial!“ Meine Notizen wurden allmählich krakelig, da es im Hause Prüm ungeschriebenes Gesetz ist, jeden Wein auszutrinken. Nur unfertige Jungweine werden hier ausgespuckt.

Dann traf mich der Flaschengeist wie ein Blitzschlag aus wolkenlosem Mosel-Himmel. Der dunkelgoldgelbe, beinahe grünlich funkelnde Wein in meinem Glas duftete wie eine altmodische Bäckerei im Morgengrauen, aber doch viel geheimnisvoller. Er sprach von murmelnden Stimmen in alten Obstgärten und schien gleichzeitig ganz mit unserer Zeit vertraut; er war nicht süß, und doch hatte ich einen solch trockenen Wein noch nie erlebt. Es handelte sich um die 38er Trockenbeerenauslese aus der Wehlener Sonnenuhr. Welcher gute Geist hatte das einst klebrigsüße Zeug in solchen Stoff verwandelt? Das Zauberwort heißt offensichtlich Reife.

Nun begegnen einem Trockenbeerenauslesen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht jeden Tag. Ich kann für solche Weine nicht einmal eine Bezugsquelle angeben. Aber was für große edelsüße Weine gilt, ist durchaus auf einfachere Qualitäten zu übertragen. Allerdings bringt es nun wirklich nichts, das Billigangebot aus dem Supermarkt zehn Jahre lang aufzuheben und auf ein Wunder zu warten.

Was passiert eigentlich in der Flasche, wenn Weine altern? Vereinfacht gesagt, handelt es sich um einen Oxidationsprozess, durch den die einzelnen Komponenten des Weines geschmacklich verschmelzen. Das macht nur Sinn, wenn auch genug in dem Wein drinsteckt. Man kann das sehr gut mit Äpfeln vergleichen: Ein wässriger Golden Delicious oder Granny Smith schmeckt frisch noch ganz annehmbar säuerlich-nett, „steigert“ sich dann aber allenfalls zur Mehligkeit, während sich eine kleine Goldparmäne nach ein paar Wochen im kühlen Keller in ein nussig-komplexes Geschmackserlebnis verwandelt.

Ja, ich höre schon die Einwände: „Ich habe aber keinen kühlen dunklen Keller!“ Hier ist etwas Pragmatismus angebracht. Idealvoraussetzungen – 10 bis 12 Grad, dunkel, erschütterungsfrei, hohe Luftfeuchtigkeit und frei von störenden Gerüchen – hat fast niemand. Es geht auch ohne den Superkeller. Wichtig ist eine konstante Temperatur unter 20 Grad, kein direktes Licht, und bitte nicht neben Waschpulver oder Kartoffeln einlagern. Man findet in jedem Keller und jeder Küche eine geeignete Ecke. Die Weine entwickeln sich dann etwas schneller und erreichen vielleicht nicht die äußerste Finesse – aber das sind wirklich Nuancen.

Während meiner Zeit an der Sommelierschule Heidelberg musste ich im heißen Sommer 1992 einige Spitzenchampagner direkt unterm Dach aufbewahren. Dennoch: Sie haben in den folgenden Jahren grandios geschmeckt! Viele Weinhändler bieten außerdem einen Lagerservice oder vermieten für geringes Geld Kellerfächer.

Ist das technische Problem gelöst, stellt sich die Frage, welche Weine gelagert werden. Hier gilt: Je konzentrierter von der Substanz und je langsamer ausgebaut, desto spannender wird die Flaschenreife. Ein Liter-Riesling, der bereits im März nach der Lese verkauft wird, kann nicht viel gewinnen. Eine Spätlese hingegen, der unser Winzer beim Ausbau bis in den Sommer hinein Zeit gelassen hat, wird dem Flaschengeist dankbar sein für die Gelegenheit, ihr Gefieder zu glätten und ungeahnte Schätze preiszugeben. Ein Trollinger sollte einfach getrunken werden, während ein im kleinen Holzfass gereifter stoffiger Spätburgunder Zeit braucht, damit die Gerbstoffe weich werden und die Aromen sich verdichten.

Die Fachleute unterscheiden dabei Primäraromen (traubeneigene, oft an Früchte und Pflanzen erinnernd), Sekundäraromen (durch die Gärung entstandene Ester, duften nach Früchten, Nüssen und Kräutern, manchmal auch nach Butter) und Tertiäraromen. Letztere entstehen während des Reifungsprozesses. Die Sekundäraromen verfeinern sich und werden komplexer, Ester verwandeln sich in Aldehyde und wirken geheimnisvoller. Sie erfordern aber einen Gewöhnungsprozess und eine bewusste Beschäftigung mit dem Wein.

Zuerst einmal geht es darum, einem komplexen Wein die Chance zu geben, überhaupt zu zeigen, was in ihm steckt. Die gelungensten 98er trockenen Rieslinge vom Rhein „öffnen“ sich gerade erst. Dennoch sind viele schon ausgetrunken. Ein ernsthafter Rotwein braucht zwei bis drei Jahre, um seine Aromen zu sortieren und nicht nur herb, also nach Gerbstoff zu schmecken. Geduldet man sich noch länger, gewinnen viele Weine eine gewisse Abgeklärtheit und Tiefe. Sie verleiht Eleganz, vergleichbar mit der Gelassenheit älterer Menschen. Mir erscheinen sie auch wesentlich bekömmlicher, wie ein gehaltvolles, traditionell gebackenes Brot, das nach einigen Tagen interessanter schmeckt und verträglicher ist.

Warum trinken wir dann keine gereiften Weine? Warum schreit die Welt immer lauter nach dem neuesten Jahrgang? Das Problem ist unser Jugendwahn. Altern entspricht nicht dem Zeitgeist, es ist weder hip noch sexy. Girlies wollen keine staubigen Flaschen und sich schon gar keine Gedanken darüber machen, wann sie ihren Höhepunkt erreichen. Günter Thies vom Weingut Schloß Schönborn im Rheingau bestätigt das: „Jeder neue Kunde will jung und trocken.“

Das setzt den Winzer unter Druck, seine Weine nicht „zu spät“ auf den Markt zu bringen. Bruno Schmitt vom Weingut Robert Schmitt im fränkischen Randersacker: „Wir füllen ein Jahr nach der Lese ab – wir würden gerne länger warten, aber sobald der neue Jahrgang da ist, interessieren sich nur wenige für den alten.“ Der Zeitgeist „will alles, und das jetzt“. So geht die Weinkennerschaft verloren.

Der Flaschengeist könnte uns helfen, ein Stück Weinkultur wieder zu beleben. Bruno Schmitt erzählt, wie ihn kürzlich bei einer Blindprobe seine eigenen 93er Rieslinge überrascht haben. Wenn der Flaschengeist selbst einen so traditionsverhafteten Winzer erstaunen lässt, dann braucht dieser Kerl mit den Zauberkräften die gleiche Unterstützung wie die taz. Damit unser kulturelles Spektrum nicht noch ärmer wird.

Hier noch einige Empfehlungen:

83er Riesling Spätlese, Wallufer Berg Bildstock vom Weingut J. B. Becker im Rheingau, erhältlich bei „Weinhandel Weinstein“ in Berlin (Fon: 0 30 / 44 05 06 55)

94er Riesling Spätlese, Wehlener Sonnenuhr vom Weingut Studert-Prüm, Mosel (Fon: 0 65 31 - 24 87)

Ernsthaft gereifte Weine hauptsächlich aus Bordeaux bietet zu fairen Preisen der Weinhändler Jan-Erik Paulson an (www.rare-wine.com Fon: 0 85 81 / 91 01 45). Tipp: 82er Château de Pez und 82er Château Phélan-Ségur! Wer die Weine jung kaufen und selber den Flaschengeist wirken lassen will:

99er Riesling Spätlese oder Auslese (je nach Geldbeutel), Saarburger Rausch vom Weingut Geltz-Zilliken, Saar( Fon: 0 65 81 / 24 56)

99er Riesling Spätlese trocken, Rüdesheimer Berg Schloßberg oder Bischofsberg vom Weingut Josef Leitz im Rheingau (Fon: 0 67 22 / 4 87 11)

98er Cahors Château du Cèdre „Le Prestige“ bei Weinhandel „Kössler & Ulbricht“, Nürnberg (Fon: 09 11 / 52 51 53)

URSULA HEINZELMANN ist Sommelière und Gastronomin. Sie führt mit Philippe Causse den Feinschmecker-Laden „Maitre Philippe“ in Berlin-Wilmersdorf

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