Finanzkrise in Italien: Der Rückhalt der Familie
Die Italiener sind krisengewohnt. Und sie sind sparsam. Deswegen trifft die Krise real nur wenige: die Süditaliener und die unter 30-Jährigen. Doch der Generationenvertrag hält.
David Marziano zeigt auf die zwölf Wohnungsangebote, die gerade im Schaufenster hängen - auf neun von ihnen steht in fetten roten Lettern "venduto", verkauft. Der alerte Mittvierziger ist seit knapp 20 Jahren als Makler in Rom aktiv, und er hat schon tiefe Einbrüche des Marktes erlebt. Krise? Er fährt sich kopfschüttelnd mit der Hand durchs kurze, gegelte Haar, rückt die dunkle Krawatte zurecht. "Nein - Krise kann ich das beim besten Willen nicht nennen", sagt er ohne Zögern. "Eher eine Rückkehr zur Normalität. Bis vor zwei Jahren kauften die Leute sofort, kaum hatten sie eine Wohnung gesehen. Jetzt wägen sie die Angebote mit mehr Ruhe ab. Dennoch haben die Preise hier im Stadtviertel kaum nachgegeben gegenüber 2007/2008."
Marzianos Büro liegt in der Via Lucrino, römischer Mittelstand wohnt im Viertel - und die "crisi" ist weit weg. Spanische Zustände? Wieder schüttelt der Makler den Kopf. "Wir finden kaum Wohnungen, die wir zum Verkauf anbieten können. Das war während der großen Krise in den frühen Neunzigern anders, damals mussten viele aus Not verkaufen." In den letzten drei Jahren seien die Preise um höchstens fünf Prozent gesunken - das aber auf einem weiterhin absurd hohen Niveau: "Selbst jetzt zahlen Sie hier im Viertel für eine popelige Garage, in die gerade mal ein Mittelklassewagen passt, zwischen 100.000 und 140.000 Euro."
Herbst 2008, die tiefe Zäsur, der große Crash - in Rom, bei den Römern sind die Folgen auch zwei Jahre später nicht so recht wahrnehmbar. Die Tische in den Restaurants sind gut besetzt, und Lokale, die der Krise wegen aufgeben mussten: Fehlanzeige. Durch die Viale Eritrea, eine große Einkaufsstraße im Norden der Stadt, schieben sich hunderte Menschen, die noch schnell Accessoires für den anstehenden Urlaub erstehen oder ein Schnäppchen im gerade begonnenen Schlussverkauf mitnehmen wollen. Doch das Geschäft könnte besser laufen, meint Vittoria, Verkäuferin in einer Damen-Boutique. "Das Geld saß früher lockerer", bilanziert sie, "viele Kundinnen probieren was an - und kaufen dann doch nicht."
"Die Leute schauen genauer hin" - Vittorias Analyse deckt sich mit der des Maklers, und genau wie er will sie nicht von großer Krise reden, sondern von einem "leichten Einbruch" im Umsatz. Doch dazu sei es nicht erst 2008 gekommen: "Unsere Kundinnen knausern schon viel länger, das begann spätestens nach der Einführung des Euro 2002."
"Crisi": An dieses Wort sind die Italiener schon seit Jahrzehnten gewöhnt, es löst deshalb keine Panik aus. Schon lange vor 2008 kämpfte das Land mit miserablen Wachstumsraten, Stillstand bei der Produktivität, stagnierenden Einkommen. "Vorsichtigen Pessimismus", so könnte man die gegenwärtig in Italien vorherrschende, kein bisschen panische und doch auch nicht zuversichtliche Grundstimmung nennen.
Risikoarme Anlagen
Aus seinem Jugendstilbüro blickt Giuseppe Roma in einen idyllischen Garten. Seit Jahrzehnten analysiert der wissenschaftliche Direktor des sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts Censis die harte gesellschaftliche Realität des Landes. Zur Krise fällt ihm als Erstes ein fast schon tautologisch anmutendes Resumé ein: "Die italienische Familie hat der Krise bisher so gut standgehalten, weil sie durch die Krise faktisch nicht betroffen wurde." Italien sei eben nicht Spanien, und auch nicht Irland, Großbritannien oder die USA. "Hier haben die Leute sich nicht verschuldet, um ihr Geld in spekulative Geschichten zu investieren. Die Italiener sind traditionell große Sparer - und dabei sehr vorsichtig. Entweder haben sie solide finanzierte Immobilien oder risikoarme Papiere wie zum Beispiel Staatsanleihen - das sind die vorherrschenden Anlageformen."
Deshalb, so Roma, sorgte die Kreditklemme vom Herbst 2008 zwar auch in Italien für düstere Stimmung - real traf sie jedoch nur wenige. "Die Leute sahen erstaunt im Fernsehen, was in New York passierte." Dann kam Phase zwei der Krise: die Rezession in der Realwirtschaft, mit ihr die Entlassungen. "Die aber hielten sich in Italien in bescheidenem Ausmaß, wir sprechen von insgesamt rund 300.000 Arbeitsplätzen, die unter dem Strich verloren gingen", bilanziert Roma. "Und Festangestellte waren von dieser Entwicklung kaum betroffen. Die Entlassungen trafen fast ausschließlich zwei Gruppen von Menschen: die Süditaliener und junge Leute in prekären Beschäftigungsverhältnissen."
Nur ein paar hundert Meter von der Villa des Censis entfernt trifft man sie: die Opfer der Krise. Gleich mehrere Callcenter haben in dem fünfstöckigen modernen Bürogebäude ihren Sitz, in der Nachbarschaft finden sich ein Feinkostgeschäft, eine sündhaft teure Metzgerei, mehrere Schickimicki-Bars. "Wir gehören ganz gewiss nicht zu den Kunden", bemerkt der dreißigjährige Fabio trocken, der gerade mit ein paar anderen jungen Leuten seines Alters auf eine schnelle Zigarette vor die Tür gekommen ist. Fünf- bis sechshundert Euro verdient er in Teilzeit, "und ich darf auch noch froh sein, dass sie mich überhaupt brauchen". Dreimonatsverträge sind mittlerweile die Regel, viele seiner Kumpel sind entlassen worden, eins der Callcenter im Haus wird demnächst schließen.
Alle im Raucherclübchen vor der Tür haben einen Uni-Abschluss, alle wohnen notgedrungen noch bei ihren Eltern, keiner plant größere Urlaubsreisen. "Das ist einfach nicht drin", meint Sara. "Wir sind die angeschmierte Generation", sagt sie mit bitterem Lächeln, "schon vor Ausbruch der Krise war das eigentlich so, aber jetzt hat es sich noch mal drastisch verschärft." Sie kennt die Zahlen: Jeder dritte unter Dreißigjährige ist in Italien mittlerweile arbeitslos. Ihr Vertrag läuft im September aus. Wenn er nicht verlängert wird, bekommt sie keinen Cent Arbeitslosenunterstützung - die ist bei Zeitverträgen in Italien nicht vorgesehen. Zukunftsperspektiven? Sie schaut ratlos. "Wir unter Dreißigjährigen müssen heutzutage über den erbärmlichsten Job froh sein."
Trotz dieser Probleme - das soziale Netz hält, meint Giuseppe Roma, der Chef des Censis. Er meint nicht den nur sehr rudimentär ausgebauten Sozialstaat. "Das Netz ist bei uns weiterhin die Familie, und die ist ökonomisch grundsolide." Mehr als 80 Prozent der Italiener wohnen im Eigenheim. Quer durch die gesellschaftlichen Schichten ist die eigene, meist schon abbezahlte Wohnung eine Selbstverständlichkeit - und quer durch die Schichten gilt weiterhin ein privater "Generationenvertrag": So ist es ganz selbstverständlich, dass die jungen Arbeitslosen oder prekär Beschäftigten auch mit 30 oder 35 noch bei den Eltern wohnen, dass sie von den Eltern auch finanziell durchgezogen werden, wenn das selbst verdiente Geld nicht reicht. Das Netz zeigt bisher kaum Risse, meint Roma: "Selbst jetzt, mitten in der Krise, stellen wir bei denen, die noch einen Immobilienkredit laufen haben, so gut wie keine Schwierigkeiten fest. Bloß 0,8 Prozent der Schuldner waren letztes Jahr mit einer oder mehreren Raten in Verzug."
Doch auch Roma will die Probleme gerade der Jugendlichen in der Krise nicht kleinreden. "Da zeigt sich erneut, ganz unabhängig von der gegenwärtigen Konjunktur, dass wir eine gerontokratische Gesellschaft sind. Ich gehe mit meinen 60 Jahren ja im Wissenschaftsbetrieb als ,ragazzo', als junger Spund durch!" Und so gut Italien bisher in der Krise standgehalten habe, so sehr gelte weiterhin, dass das Land stagniert - vor, in, leider wohl auch nach der Krise. "Die hat nämlich mit unserem jahrelangen Stillstand schier gar nichts zu tun. Schon vorher stagnierte das Wachstum, stagnierten die Einkommen, der Konsum."
Immobil sei Italien, diagnostiziert Roma - und dabei im Verhalten äußerst stabil. "Wir stellten in unseren letzten Umfragen fest, dass der Optimismus der Menschen deutlich abgenommen hat, nur noch 40 Prozent blicken optimistisch in die Zukunft. Bis vor wenigen Monaten waren es trotz globaler Krise immer mehr als 50 Prozent.
Sparprogramm unnötig?
"Das ist wohl Ergebnis der Tatsache, dass die Regierung jetzt ein 25-Milliarden-Sparprogramm für die nächsten zwei Jahre angekündigt hat." Ein Sparprogramm, das er angesichts der italienischen Rahmendaten eigentlich für überflüssig hält. "Aber uns blieb gar nichts anderes übrig, nachdem Merkel-Deutschland mit einem Megasparprogramm vorgeprescht ist. Hätten wir nichts getan, hätten uns die Finanzmärkte nach dem Griechenland-Desaster sofort abgestraft." Doch der zunehmende Pessimismus bleibt vorerst ohne fühlbare Folgen: "Bei der Urlaubsplanung haben sich die Italiener gegenüber letztem Jahr keinen Zentimeter bewegt. Damals fuhr die Hälfte weg, dieses Jahr kommen wir auf akkurat denselben Wert. Angst ist da - aber sie wirkt sich nicht aufs reale Verhalten der Leute aus."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Abschluss G20-Gipfel in Brasilien
Der Westen hat nicht mehr so viel zu melden
CDU-Politiker Marco Wanderwitz
Schmerzhafter Abgang eines Standhaften