Finanzkrise in Europa: Brüssel ändert die Therapie
Die Spardiktate werden gelockert, die EU-Kommission setzt stattdessen auf Agendapolitik. Vor allem Frankreich bekommt das zu spüren.
BERLIN taz | Arbeitskosten senken, Arbeitszeit verlängern, Rentensysteme reformieren: Das sind die Empfehlungen, die die EU-Kommission am Mittwoch den „Schuldensündern“ der Eurozone gegeben hat. Vor allem Frankreich soll diesen neoliberalen Rezepten folgen, forderten Kommissionschef José Manuel Barroso und Währungskommissar Olli Rehn. Im Gegenzug bekommt die sozialistische Regierung in Paris zwei Jahre mehr Zeit zur Erfüllung der EU-Sparvorgaben.
Auch Spanien, Portugal und die Niederlande erhalten einen Aufschub beim Kürzen und Streichen. Auch sie sollen „Strukturreformen“ einleiten. Gute Nachrichten hielt die Kommission dagegen für Italien bereit: Das Land mit der zweithöchsten Schuldenquote nach Griechenland wird aus dem EU-Defizitverfahren entlassen, weil es seine Neuverschuldung unter die erlaubten 3 Prozent gedrückt hat.
„Wenn unsere Empfehlungen umgesetzt werden, sind die Aussichten für eine wirtschaftliche Erholung deutlich besser“, begründete Währungskommissar Rehn seinen Schwenk. Jahrelang hatte Rehn einen harten Sparkurs gefordert. Doch der würgte die Konjunktur in der gesamten Eurozone ab.
Vor diesem deprimierenden Hintergrund ändert Rehn die Therapie: Nun sollen Reformen nach dem Vorbild der deutschen Agenda 2010 den Aufschwung bringen. „Wachstum durch Wettbewerbsfähigkeit“ heißt die neue Parole, die vor allem an Frankreich durchexerziert wird.
„Frankreich hat in den vergangenen 10, vielleicht sogar auch 20 Jahren an Wettbewerbsfähigkeit verloren“, sagte Barroso. Als Gegenleistung für zwei zusätzliche Jahre beim Sparen müssten nun die Arbeitskosten sinken. Auch müsse der Energie- oder Dienstleistungssektor für mehr Wettbewerb geöffnet werden. Zudem mahnte Barroso eine zweite Stufe der von Ex-Präsident Sarkozy eingeleiteten Rentenreform an.
Kein Streit mit der Kanzlerin
Wie diese Strukturreformen zu mehr Wachstum führen sollen, ließen Barroso und Rehn offen. Unklar blieb auch, wo die Nachfrage herkommen soll, ohne die die angebotsorientierten Reformen wirkungslos verpuffen dürften. Die EU-Mitglieder mit Leistungsbilanzüberschüssen müssten für mehr Nachfrage sorgen, sagte Barroso zwar einmal. Doch in den Empfehlungen zu Deutschland, das die größten Überschüsse erwirtschaftet, findet sich davon nichts wieder.
Noch vor einem Jahr hatte Brüssel kräftige Lohnerhöhungen gefördert, um die Binnennachfrage in Deutschland zu stärken. Nun war davon keine Rede mehr. Er schlage nicht vor, „dass Deutschland weniger wettbewerbsfähig wird“, sagte Barroso, womit er eine Wendung von Kanzlerin Merkel aufgriff.
Rehn sagte, die Nachfrage müsse insbesondere durch eine Senkung der Steuer- und Abgabenlast für Geringverdiener angekurbelt werden. Mindestlöhne, wie sie Sozialkommissar Laszlo Andor für Deutschland angemahnt hatte, finden sich in den Empfehlungen dagegen nicht mehr wieder. Offenbar wagt Brüssel im Wahlkampf keinen Streit mit der Kanzlerin.
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