Filmfestspiele Venedig: Unter dem Vulkan
Lidokino 5: Einsame Monster und ein umfassend umwölktes Neapel bei den Filmfestspielen von Venedig.

J ulia Roberts auf dem roten Teppich zu erleben, tut was mit einem. Da kann man noch so sehr von sich behaupten, vom Starrummel nicht groß berührt zu werden. Es mag für einen selbst heftiger sein, zum Beispiel beim Warten in der Schlange vor Filmbeginn von einem durchnässenden Regenschauer erwischt zu werden. Dagegen ist dieser kurze Moment, in dem man merkt, dass die Person, die wenige Meter vor einem in einem Fahrzeug mit verdunkelten Scheiben eskortiert wurde und dann dem Wagen entstieg, tatsächlich Julia Roberts auf dem Weg zur Premiere des Films „After the Hunt“ ist, um einiges erfreulicher.
Auch der Regisseur Guillermo del Toro hat für seinen Wettbewerbsfilm „Frankenstein“ ein paar Stars verpflichtet, allen voran Oscar Isaac in der Titelrolle, Mia Goth als sein Schwarm Elizabeth Lavenza und Christoph Waltz als Frankensteins Förderer Henrich Harlander. Vermutlich war del Toros Beitrag für die Wahl des Goldenen Löwen bei den 82. Filmfestspielen von Venedig sogar der am meisten erwartete Film überhaupt. Die Hoffnung, dass sich sein Erfolg von 2017, als er auf dem Lido mit „The Shape of Water“ den Hauptpreis gewann, wiederholen könnte, dürfte da mit hineingespielt haben. Und zwischen dieser Monster-Mensch-Romanze und der Geschichte, die er in „Frankenstein“ erzählt, bestehen sogar einige Parallelen.
Erneut gibt es ein Ungetüm, diesmal aber ein von Menschenhand erschaffenes. Jacob Elordi übernimmt den Part des Geschöpfs, das so kunstreich mit Narben quer über den Körper ausgestattet ist, dass man den Schauspieler kaum erkennt. Zunächst hat das Geschöpf auch wenig mehr zu tun, als zu brüllen. Del Toro folgt Mary Shelleys literarischer Vorlage darin, dass er einsetzt mit der Nordpolexpedition eines Segelschiffs. Dieses spürt den verletzten Frankenstein im Eis auf und nimmt ihn an Bord, wo er seine Geschichte zu erzählen beginnt.
Frankensteins Weg vom gehorsamen Schüler des strengen Vaters zum fanatischen Wissenschaftler, der für seine Idee, künstliches Leben zu schaffen, buchstäblich über Leichen geht, hat del Toro üppig bebildert und, wo er konnte, mit seiner Vorliebe für Steampunk gewürzt. Frankensteins Labor, in einem ehemaligen Wasserturm eingerichtet, steckt voller Rohre und Apparaturen mit reichlich patinierten Verzierungen, alles liebevoll verfallen.
Die Handlung, in zwei Teile geordnet, folgt zunächst Frankensteins Bericht, um dann dem Geschöpf das Wort zu überlassen. Damit läuft die Geschichte auf ein Plädoyer des Monsters hinaus, einen Platz in der Welt zu finden, in der es gar nicht vorgesehen ist. Die Absicht ist zweifellos gut, man versteht die Botschaft beim Zuschauen auch. Doch man leidet kaum mit diesem allzu künstlich verunstalteten Geschöpf, Elordi trägt daher schwer daran, sein Monster zu einer Figur zu machen. So lässt del Toro die Sache sich zum Morallehrstück auswachsen, statt Horror serviert er einiges an Ekel, doch ein Meisterwerk wird daraus nicht.
Das gibt es eher bei Gianfranco Rosi, der mit einem Dokumentarfilm in Schwarzweiß antritt. „Sotto le nuvole“ folgt mehreren Menschen um Neapel durch ihren Alltag. Feuerwehrleute erkunden unterirdisch die Tunnel von Grabräubern oder müssen beim Telefondienst Notrufe aller Arten annehmen und bilden so ein Panorama sozialer Nöte ab. Eine Gruppe japanischer Archäologen arbeitet daran, die Reste der im Schatten des Vesuvs gelegenen Villa Augustea freizulegen, während syrische Schiffsleute im Hafen nahe Neapel ukrainisches Getreide aus einem Frachter entladen, teils mit maximalem Körpereinsatz.
Über allem liegt die Bedrohung durch das bei Neapel gelegene Vulkangebiet Phlegräische Felder. Der Supervulkan sorgt seit zwei Jahren für verstärkte Aktivität mit Erdbeben, die Sorge, dass „etwas passieren“ könnte, hört man den Anrufern bei der Feuerwehr deutlich an. Gianfranco Rosi wechselt nüchtern gehaltene Bilder von seinen Protagonisten bei der Arbeit elegant mit Aufnahmen von Wolkenfeldern oder aufsteigender Vulkanasche ab, was mit den schwebenden Klängen der Filmmusik von Daniel Blumberg einen ersten Höhepunkt ergibt. Einen poetischen.
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