Filmfestspiele Venedig: Verliebt in die Farben
Couscous, eingelegte Pfefferschoten, Mangos und Pfannkuchen - Abdellatif Kechiche und Wes Anderson beobachten in ihren Filmen Familien beim Essen.
E in großer Topf Couscous, Gemüse, gebratene Fischhälften, eingelegte Pfefferschoten: das ist das Sonntagsgericht der Familie von Beiji Slimane. Alle sind in der engen Hochhauswohnung versammelt, das halbe Dutzend Kinder, die Frau, die Schwiegersöhne und -töchter, die Enkelkinder, die Tanten und die Onkel. Alle lieben und loben den Couscous, alle reden auf Französisch und durcheinander - zum Beispiel über Diätvorhaben, den Preis von Windeln oder die Frage, wann überhaupt man noch Arabisch spricht (wenn man miteinander schläft oder einen Wutausbruch hat). Die Kamera von Lubomir Bakschew hängt an den Lippen der Figuren, sie folgt den Fingern, die nach Gräten pulen oder Pfefferschoten zum Mund führen. Sie ist dabei agil, fast fahrig, und wenn der Couscous am Gaumen pappt, schaut sie trotzdem für Sekunden in die Mundhöhle.
Nur einer fehlt: Beiji Slimane selbst, der 61 Jahre alte, hagere, ausgezehrte Mann (Habib Boufares), der im Begriff ist, seine Stelle auf einer Schiffswerft zu verlieren. Er ist das stille Zentrum in Abdellatif Kechiches neuem Film "La grain et le mulet" ("The Secret of the Grain"), der in der südfranzösischen Hafenstadt Sète spielt. Slimane fehlt, weil er schon lange nicht mehr zu Hause wohnt - er ist einer anderen Frau begegnet und lebt nun bei ihr, in dem kleinen, recht schäbigen Hotel, das sie führt. Ein Skandal, möglicherweise. Möglicherweise aber auch nur eine Erweiterung der Großfamilie auf außergewöhnliche Art. Die Söhne Slimanes zögern nicht, eine Schüssel mit Couscous ins Hotel zu bringen, und Rym, die Tochter von Slimanes neuer Gefährtin (Hafsia Herzi), sagt zwischen gierigen Bissen: "So einen guten Couscous habe ich lange nicht mehr gegessen."
"Le grain et le mulet", ein Beitrag zum Wettbewerb, nimmt sich lange Zeit die Freiheit, der großen, komplizierten Familie Slimanes einfach nur zuzuschauen - beim Essen, beim Streiten, beim Versöhnen, bei der Arbeit, beim Reden und Schreien, und das hat dank der wendigen Kamera viel Charme. Doch nach einer Weile scheint das Hin- und Zuschauen dem Regisseur, der mit seinem vorangegangenen Film, "Lesquive" (2003), mehrere Césars gewann, nicht mehr zu reichen. Ein richtiger Plot muss her, ein Restaurant soll gegründet werden, und nun folgt man Slimane und Rym, wie sie die Kräfte der Großfamilie mobilisieren, um das Unwahrscheinliche wahr werden zu lassen. Intensive Szenen gibt es auch jetzt noch, nur sind diese Momente merklich dem Plot untergeordnet, und der duftet ein wenig nach Milieustudie, milde abgeschmeckt mit den Zutaten der Multikultikomödie.
Noch ein zweiter Film im Wettbewerb nähert sich einer komplizierten Familie, indem er sie beim Essen beobachtet. "The Darjeeling Limited" von Wes Anderson erzählt von drei Brüdern, die durch den indischen Bundesstaat Rajasthan reisen, nachdem sie sich lange nicht gesehen haben. Francis Whitman (Owen Wilson) hat die Reise als spiritual journey konzipiert, da er nach einem Motorradunfall dem Tod nahe war. Sein geheimes Ziel ist es, die Mutter (Anjelica Huston) zu besuchen, die sich in ein entlegenes, christliches Kloster zurückgezogen hat. Im Speisewagen des Zuges befiehlt Francis seinen Brüdern mehr, als dass er sie fragt: Huhn für Peter (Adrien Brody), Lamm für Jack (Jason Schwartzman) und Suppe für alle. Den leisen Protest - "Bestell doch bitte nur für dich selbst" - überhört er. Als die Brüder nach vielen Umwegen bei der Mutter ankommen, ordert sie das Frühstück schon am Vorabend. Mangoscheiben für Jack, Pfannkuchen für Peter, Omelett für alle.
Wie "La grain et le mulet" ist "The Darjeeling Limited" eine Komödie, überbordend in ihrer Verspieltheit, putzig in ihrer Detailversessenheit, verliebt in die intensive Farbigkeit Indiens - und zugleich ist Andersons Film maßlos traurig. Dies nicht nur deshalb, weil die Figuren in seinen Filmen immer versehrt sind, ohne dass man genau wüsste, weshalb, und schon gar nicht, wie ihnen zu helfen wäre. Mehr noch, weil die Wirklichkeit auf den Film übergreift. Einmal sagt Francis Whitman, er sei mit seinem Motorrad absichtsvoll von der Straße abgekommen. Seit Anfang letzter Woche ist bekannt, dass Owen Wilson nicht nach Venedig reist, da er sich von einem Selbstmordversuch erholt.
CRISTINA NORD
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