Filmfestival in Rio de Janeiro: Die Geschwister von Bonnie und Clyde
27 Kinos, 450 Filme, zahlreiche Sonderreihen, schwere, warme Seeluft und praktische Verhaltenstipps. Eindrücke vom größten Filmfestival Südamerikas.
RIO DE JANEIRO taz | Fünf Stunden liegt Rio de Janeiro wegen der unterschiedlichen Zeitzonen hinter Berlin zurück. Man merkt das nicht beim Fliegen, man merkt das erst beim Ankommen. Morgens um 4.30 Uhr steigst du in der dunklen Kreuzberger Herbstkälte die Treppen zur Hochbahn hoch, um zum Flughafen zu fahren mit den Öffentlichen, mit Jacke, Pullover, Mütze und Schal, und keine 18 Stunden später stehst du am späten Frühlingsnachmittag bei 27 Grad Außentemperatur auf der Avenida Atlântica im T-Shirt vor dem 39-Stockwerke-Hotel im Stadtteil Copacabana, in dem die Gäste des Festivals do Rio untergebracht sind.
Vor dir, du müsstest nur kurz über die Straße, liegt dieses Strandstück, dessen Panorama du schon so oft auf Bildern gesehen hast: Irre, das sieht in echt genau so aus wie auf den Fotos!
Das Filmfestival hatte mich eingeladen zum Berichten und den Flug und die Unterkunft bezahlt. Im Hotel erhalte ich eine Einladung zum Dinner am Abend anlässlich einer Reihe neuerer italienischer Filme, die einen der vielen Schwerpunkte des Festivals bildet. Im italienischen Nobelrestaurant im Nachbarstadtteil Ipanema gibt es starke Caipirinhas, und auch der Blick auf die beleuchtete Bucht lässt keine Wünsche offen. Lange, in mintgrünen Farben gedeckte Tische bieten ca. 100 Gästen Platz.
Wir atmen die schwere Seeluft, die sich wie ein Film auf alles legt. Auch wenn wir hier auf der Terrasse im Freien sind, ist das Gebäude doch überdacht, weshalb das Rauchen untersagt ist. Nach einer Weile tauschen viele den schönen Blick auf die Bucht mit dem unspektakulären auf den Parkplatz. Von hier gibt es nichts Sehenswertes zu betrachten, deshalb darf man rauchen. Ich merke, wie mir nach und nach immer schwindliger wird, die Caipirinhas sind daran schuld, denke ich, aber eigentlich wird es doch der lange Flug gewesen sein und der Jetlag deswegen. Erst am anderen Tag steige ich in das Programm des Festivals ein.
Überbordendes Programm
Das Festival, das größte Südamerikas, findet in insgesamt 27 Kinos statt, die über die 6-Millionen-Einwohner-Stadt verteilt sind. Im vor den Filmen projizierten Festival-Trailer heißt es, in Rio gebe es immer etwas zu sehen. Das ist in diesem Fall auf das Festival gemünzt: Neben den nationalen Wettbewerben für Spiel- und Dokumentarfilme gibt es zahlreiche weitere Sektionen und Spezialreihen mit einheimischen und auswärtigen Produktionen, zudem viele Hommagen und Themenreihen.
So wird beispielsweise eine Werkauswahl des italienischen Giallo-Regisseurs Dario Argento gezeigt, eine des chilenischen Dokumentaristen Patricio Guzmán, und vom Ungarn Béla Tarr, dessen "The Turin Horse" den Großen Preis der Jury auf der Berlinale 2011 gewann, ist eine komplette Retrospektive zu sehen. Es gibt eine Reihe mit neueren Filmen aus Israel, es gibt Premieren mit Filmen aus Lateinamerika, es gibt internationale schwule Produktionen, in drei Subsektionen unterteilte "Midnight Movies" und vieles mehr.
Als ich mich in Berlin mit Material aus dem Internet auf die 350 Filme vorbereitete, fühlte ich mich von der Kombination dieser ungeheuren Film-Masse und der mir fremden Stadt überfordert. Ich beschloss, mich hier ausschließlich auf Dokumentarfilme aus Brasilien zu konzentrieren.
Die Vorführung von "As Canções" von Eduardo Coutinho findet im Odeon-Kino im Stadtteil Centro statt. Weil ich so viel von der Straßenkriminalität in Rio de Janeiro gelesen hatte, erkundige ich mich bei den Gästebetreuern vom Festival, ob es sicher ist, mit der U-Bahn zum Kino zu fahren. Das U-Bahn-Fahren sei kein Problem, aber der Fußweg vom Hotel zur nächsten Metro könnte unsicher sein.
Ich werde nun von oben bis unten gemustert und Fehler meines Aussehens werden in einer hilfreichen Lektion in Stildemokratisierung benannt: Wie man sich geben muss auf den Straßen von Rio de Janeiro. Die Umhängetasche? Besser im Hotel lassen, brauchst du eh nicht, das ganze Zeug darin. Der Festival-Badge, der um den Hals hängt? Wenn ich ihn unbedingt mitnehmen will, dann unters T-Shirt damit. Die Uhr? Lass sie hier! Der Blick? Nicht so neugierig und touristisch überwältigt, etwas abgeklärter. Am Besten: zielstrebig, aber entspannt.
Der Fußweg zur U-Bahn läuft sich schließlich reibungslos, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob ich wirklich so unaufgeregt und entspannt aussehe, wie man es mir aufgetragen hatte. Natürlich ist das Kino voll besetzt.
Der mittlerweile 78-jährige Eduardo Coutinho ist ein Meister des simpel erscheinenden, nach und nach aber immer mehr Vielschichtigkeit freilegenden Dokumentarfilms. Seine Filmografie reicht bis in die 60er Jahre zurück. Sie umfasst ein Werk, das zwar thematische Berührungspunkte zu Brasiliens expressivem Cinema Novo der 60er und 70er Jahre aufweist, dabei aber mit viel traditionelleren Methoden arbeitet.
Die Filme bauen auf geduldige Beobachtung und hintergründige Porträtierung. "As Canções" (engl. "Songs"), der später auch als bester Dokumentarfilm des Festivals ausgezeichnet wird, ist ein Querschnittsfilm, in dem nach und nach etwa 20 Leute unterschiedlichen Alters auf einer nur mit einem Stuhl ausgestatteten Bühne von Liedern erzählen, die in ihrem Leben eine besondere Bedeutung einnehmen.
Coutinhos aufgeräumte Regie und entspannte Fragetechnik geben den Porträtierten, größtenteils Einwohner Rios, einen komplexen Freiraum. Von der ersten Einstellung an spürt man das Vertrauen, das zwischen dem Regisseur und seinen Figuren herrscht. Sie sind eher Mitwirkende des Films als Befragte. Die Geschichten, die allesamt von Herzensangelegenheiten handeln, wirken nie erbeutet, sondern in gegenseitigem Einverständnis präsentiert. Der Film transformiert sich dabei nach und nach zu einem minimalistischen, demokratischen Musical, in das sich bald auch das Publikum im Odeon-Kino einmischt, wenn es bei den a cappella vorgetragenen Liedern im Film leise mitsummt oder spontanen, kathartischen Zwischenapplaus spendet, wenn es von den erzählten Lebensgeschichten besonders angerührt ist.
Filme voller Musik
Musik spielt bei fast allen Filmen, die ich auf dem Festival sehen kann, eine wichtige Rolle. In "Cena Nuna" (engl. "Naked Scene") von Belisario Franca, einem Film, der den Theatermacher Amir Haddaf bei Produktionen und Aufführungen in Rio beobachtet, ist es die Samba. Franca zeigt die Buntheit, Offenheit und Vielgestaltigkeit von Haddafs vitalen Arbeiten, die meist öffentliche Plätze appropriieren. Deren intervenierende Raumbezüge sind in dem hellwachen Film mit bis zu drei Frames umfassenden Splitscreens anschaulich gemacht.
Mit diesem erzählerischen Verfahren, das die dargestellten Verhältnisse nicht durch sukzessive Einstellungen, sondern gleichzeitig in einem Triptychonbild miteinander kombiniert, operiert auch "Os Últimos Cangaceiros" ("The Last Cangaceiros") von Wolney Oliveira. Der Film erzählt von einem fast 100-jährigen Paar, das in den 30er und 40er Jahren einer Bande von marodierenden Gesetzlosen aus dem Nordosten des Landes angehörte.
Oliveiras Film arbeitet dabei immer wieder erstaunliche Archiv-Filmaufnahmen ein, die die Bande vor 70 Jahren von sich selbst gemacht hatte. In der Montage erscheinen die Banditen wie brasilianische Pop-Geschwister von "Bonnie und Clyde".
Faszinierend ist auch der Umgang mit Dokumenten in Lúcia Murats "Uma Longa Viagem" ("A Long Journey"). Die Filmemacherin erzählt darin die Geschichte ihres Bruders, der die 70er Jahre in einem großen, drogenschwangeren Selbsterfahrungstrip durch die ganze Welt verbrachte, während sie selbst, von der brasilianischen Militärdiktatur wegen aufrührerischen Verhaltens verurteilt, jahrelang inhaftiert war.
Murat mischt Interviews mit ihrem Bruder mit installativen Spielszenen, in denen ein Schauspieler vor Rückprojektionen mit historischem Filmmaterial agiert. Es ist dabei nicht klar, ob der Schauspieler in die Bilder der vergangen Zeiten hinter ihm einzutauchen sucht oder ob die Aufnahmen der vergangenen Zeiten den Darsteller verschlucken wollen. Die Plastizität der Dokumente synchronisiert sich nicht völlig mit der Erfahrung der Gegenwart; es bleibt ein widerständiger Rest, der für spannende Reibungen zwischen Darstellung und Dargestelltem sorgt. Im Leben, so Murat aus dem Off, durchquere man Räume, währenddessen einen die Zeit passiere.
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