Film „Das neue Evangelium“ als Stream: Jesus gegen die Globalisierung
Der Film „Das neue Evangelium“ des Regisseurs Milo Rau verknüpft Dokumentation, Re-Enactment und politische Aktion. Ein Teil der Erlöse geht an Kinos.
Am Ende, der Abspann läuft schon, kann man sehen, was die crowdfunding-gestützte „Revolte der Würde“ in Italien erreicht hat. Eine Kamerafahrt besucht die neuen, sauberen Unterkünfte und autonom bestellten Gemüsefelder und die neue Schneiderei der „Casa Sankara“, die migrantische Tomatenpflücker in San Severo aus dem Elend der Ghettos und den Händen der Mafia befreit hat.
In einer anderen Einstellung hält Hauptdarsteller Yvan Sagnet mit Maske und dennoch sichtlich stolz die fair produzierte Tomatensauce seiner NGO „NoCap“ in die Kamera, die er nun in zwei großen italienischen Supermärkten verkauft. Der italienische Biobauer Vito Castoro, der einen von Jesu Aposteln spielt, zeigt die Felder seiner neu vernetzten Kooperative, in der er nun unter anderem mit Hilfe von Migranten, afrikanisches Gemüse anbaut und neue Absatzmärkte erreicht.
Es sind direkte Ergebnisse dessen, was die Dreharbeiten von Milo Rau vor Ort erreicht oder beschleunigt haben, und sie zeigen, dass der Film „Das neue Evangelium“ eine neue, ermutigende wie zukunftsweisende Verbindung von Kunst und politischer Aktion erfindet: Es ist möglich zu handeln. Allein durch die Vernetzung der Isolierten, in kleinen, gemeinschaftlichen Schritten, kann viel erreicht werden.
Doch tatsächlich verweben sich in Milo Raus neuem Film noch weitere Ebenen: Einerseits ist „Das neue Evangelium“ ein säkulares Passionsspiel in historischen Kostümen, das emotional ergreifend die Bilder des legendären Films „Das 1. Evangelium – Matthäus“ des Kommunisten Pier Paolo Pasolini von 1964 reinszeniert.
Reale Aktivisten und Geflüchtete
Zugleich dokumentiert der Film aber auch das heutige Elend der Tomatenpflücker in Süditalien, die in matschigen, isolierten und heruntergekommenen Bretterbaracken hausen, ausgebeutet von der Mafia, ganz nah und doch unsichtbar für Touristenaugen: symbolisch für den desolaten Zustand einer Welt, in der Großkonzerne durch Sklaverei Gewinne machen, symbolisch auch für etwas, was Jesus vielleicht heute getan hätte: sich als Sozialrevolutionär für die Verlierer der Globalisierung einzusetzen.
Mit ruhiger Kraft und charismatischer Aura schreitet Yvan Sagnet, der erste schwarze Jesus der Filmgeschichte, durch die Ghettos und sammelt seine Jünger ein für den politischen Kampf, die bei Milo Rau ebenfalls Laiendarsteller, reale Aktivisten und Geflüchtete sind, etwa der Musiker Ras Bamba, der heute in den Ghettos ein Radio betreibt, die Gründer der Casa Sankara Papa Latyr Faye und Mbaye Ndiaye, die Nigerianerin Blessing Ayomonsuro, die heute Prostituierten hilft und im Film zu Maria Magdalena wird.
Auch Yvan Sagnet ist seit vielen Jahren politisch aktiv: 2007 kam er als Ingenieurstudent aus Kamerun nach Turin und arbeitete erst selbst auf den Feldern, bevor er 2011 den ersten Generalstreik der Gemüsepflücker organisierte, der die korrupte Arbeitsvermittlung der „Carporalati“ unter Strafe stellte. Immer wieder wurde Sagnet selbst massiv bedroht von der Mafia, aber 2017 auch mit dem italienischen Verdienstorden ausgezeichnet und in ganz Italien bekannt.
„Das neue Evangelium“. Regie: Milo Rau. Mit Yvan Sagnet, Marcello Fonte u. a. Deutschland/Schweiz/Italien 2020, 107 Min. Läuft digital mit Beteiligung lokaler Kinos unter www.dasneueevangelium.de
Während der Dreharbeiten wurde er allerdings trotzdem mit zynisch-rassistischen Zeitungsartikeln konfrontiert: „Ein schwarzer Jesus lockt die Migranten zu uns. Könnten sie tatsächlich über Wasser gehen, hätten wir ein echtes Problem“, schrieb etwa die größte rechte Zeitung Italiens La Verità mit ihm auf dem Titelblatt.
Das eigene „Making of“ thematisiert
Doch was Milo Raus Film jenseits dessen zum Meisterwerk und zur großen Metapher macht, ist die Art, wie eine dritte Ebene hineinspielt, die stets das eigene „Making of“ thematisiert – und den Zuschauer quasi selbst in den filmischen Vorgang hineinzieht. Elegant erübrigt sich so zugleich auch die alte Frage, ob ein weißer, privilegierter Regisseur seinen politischen Kampf – aber auch seine eigene Karriere – auf dem Leid politisch Rechtloser aufbauen darf.
Ja, er darf es, weil immer wieder zu sehen ist, wie sehr sich Milo Rau zurücknimmt und selbst befragt, wie er die Realität in die Dreharbeiten eingreifen lässt (als etwa das Ghetto neben Matera von der Polizei geräumt wird und die Migranten zerstreut werden) und weil immer wieder deutlich wird, wie stark er der Arbeit seiner Hauptfigur Yvan Sagnet den Raum überlässt.
Gleich zu Beginn sehen wir, wie die beiden die schneebedeckten, pittoresk bebauten Hügel von Matera, Süditalien, bewundern, berühmt für die Höhlensiedlungen, Weltkulturerbe, Kulturhauptstadt 2019: eine Stadt, die von ferne so sehr an Jerusalem erinnert, dass hier Pier Paolo Pasolini und Mel Gibson legendäre Jesus-Filme drehten, aber auch der letzte James Bond hier spielt.
Künstlerisches Vermächtnis
Pasolinis „Das 1. Evangelium – Matthäus“ ist auch die direkte Vorlage für Milo Rau, immer wieder verweben sich Realität und Inspirationsquelle: In der Casa Sankara sehen wir etwa, wie Migranten und Filmteam gemeinsam den Pasolini-Film angucken.
Der so umwerfend sanfte und eindrucksvolle Jesus-Laiendarsteller von 1964, Enrique Irazoqui, spielt in Raus „Neuem Evangelium“ Johannes den Täufer oder Schauspieltrainer für Yvan Sagnet. Er gibt ihm quasi sein künstlerisches Vermächtnis weiter – und das sogar im traurigen Wortsinn, weil Irazoqui, 76-jährig, nur wenige Tage nach der Premiere bei den Filmfestspielen von Venedig im September 2020 starb.
Empfohlener externer Inhalt
Trailer „Das neue Evangelium“
Manchmal ist diese „Making of“-Ebene im Film ziemlich lustig, wenn man etwa sieht, wie Yvan Sagnet sich zum Maßnehmen auf das Holzkreuz legt oder fachmännisch die Lederpeitsche begutachtet, mit der er später gefoltert wird.
In abgefilmten Casting-Szenen sieht man, wie abgeklärt die Stadtbürger von Matera als Statisten sind, denn nicht zuletzt ist der Film auch ein Gemeinschaftsprojekt der Stadt: Einer sammelt Selfies mit Filmstars, eine andere weint für „Kinder in Afrika“, und selbst jener Bürgermeister, der gerade noch brutal das Ghetto neben Matera räumen ließ, spielt eine Rolle als demütiger und treusorgender Kreuzträger Simon von Cyrene.
Peitschenschläge in der Kirche
Kaum auszuhalten ist dann aber jene Szene, in der sich ein gläubiger Materaner als Soldat und Folterer bewirbt, um „den heiligen Gott zu massakrieren“, mit nacktem Oberkörper und Liegestützen kampfbereit macht und schließlich minutenlang einen schwarzen, glänzenden Stuhl foltert und rassistisch beleidigt.
Lange hallen die Peitschenschläge in der Kirche, während Pergolesis „Stabat Mater“ einsetzt und man sieht, wie sehr der sanfte Yvan Sagnet in Matera geherzt und umjubelt wird: eine Metapher, die jenen strukturellen Rassismus kondensiert, der Migranten passieren kann, wenn keine Filmteams draufgucken.
Zum Schluss hin übernimmt die historische Bibelerzählung in großen, gleißenden Bildern. Das Abendmahl in einer alten Industrieruine, der Verrat des schwitzenden Judas. Der blutüberströmte Yvan Sagnet schleppt das Kreuz die Gassen von Matera hinauf, Soldaten und Stadtbürger hetzen ihm Affengeräusche hinterher.
Auf den Hügeln hinter Matera bricht Maria zusammen, gespielt von der großen rumänischen Mel-Gibson-Schauspielerin Maia Morgenstern, stirbt zitternd Jesus am Kreuz, während sich der Himmel real verdunkelt, „Cut“, ruft Milo Rau.
Und auch wenn der Film sehr langsam beginnt, es eine Weile braucht, seine Ebenen zu durchdringen, manches sich nicht ganz von selbst erklärt, hat er am Ende emotional gepackt, ist die historische Fiktion so sehr mit Realität getränkt, dass man weinen könnte und trotzdem Hoffnung hat. Ein gewaltiger Aufschlag, eine neue Form von Kunst, die passender zur Weihnachtszeit nicht sein könnte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Deutsche und das syrische Regime
In der Tiefe