Film „Annette“ von Leos Carax und Sparks: Liebe macht krank
Der Regisseur Leos Carax hat ein Musical der Pop-Band Sparks verfilmt. „Annette“ ist ein furioser und albtraumhafter Trip.
He’s so full of himself“, sagt der Amerikaner, wenn er jemanden beschreibt, der sich um sich selbst dreht. Der egozentrisch ist, der konsequent und ohne Rücksicht auf andere seinen eigenen Vorteil sucht. Wie Henry McHenry (Adam Driver). Der Mensch ist „so full of himself“, dass er sogar seinen eigenen Namen zweimal trägt.
Leos Carax’ Albtraummusical „Annette“ hat ein Monster erschaffen: Henry McHenry ist „The Ape of God“, unter diesem Titel steht der großgewachsene Mann abends auf den Comedy-Bühnen der USA und macht, was Stand-up-Comedians zuweilen so machen: provozieren wie Lenny Bruce, monologisieren wie Henry Rollins, ein bisschen Chilly Gonzales steckt – allein outfitmäßig, McHenry trägt Bademantel – auch noch drin.
Davor und danach wird sich vor dem Spiegel tüchtig selbst angeekelt, weil man eben doch den Applaus des verachteten Publikums braucht. Und wenn die in grüner Spitze gekleideten Backgroundsängerinnen Henrys Kamikaze-Oneliner in feinsten, mehrstimmigen Harmonien wiederholen, schreien die Zuschauer:innen vor Begeisterung: „Laugh, laugh, laugh!“
Carax, der den Film nach Idee und Drehbuch des US-amerikanischen Art-Popduos Sparks (Ron und Russell Mael) inszenierte, präsentiert mit Henry McHenry den Prototypen eines Narzissten, einen toxischen, energetischen Mann, der zunächst gar nicht mal so unsympathisch rüberkommt. Denn auch Supernarzissten verlieben sich – Henry hat sich dafür die gefeierte Sopranistin Ann (Marion Cotillard) erwählt, und sie sich ihn.
„Annette“. Regie: Leos Carax. Mit Adam Driver, Marion Cotillard u. a. Frankreich/USA/ Mexiko/Deutschland/Belgien 2021, 140 Min. Läuft im Kino und auf Amazon
Opulent und opernhaft tanzen, turteln und toben die beiden umeinander herum, kitzeln sich, lobpreisen sich, nicht mal beim Cunnilingus kann Henry lange die Klappe halten: „We love each other so much“ – und das, pointierterweise, kurz nachdem er zwischen ihren Beinen wieder auftaucht. Von der Kamerafrau Caroline Champetier wird das Ganze wild, fantasie- und liebevoll in großen, düsteren Bildern eingefangen.
Eine schwierige Partnerschaft
Denn dass eine Beziehung zwischen zwei (unterschiedlich angelegten) Frontschweinen selten gut geht, ist eine der Binsenweisheiten, die die Grundlage für „Annette“ bilden.
Es kommt darum, wie es kommen muss: Carax erzählt rasch und mit der Hilfe von ein paar eingestreuten „News“-Blitzen eine schwierige Partnerschaft, die spätestens mit der Geburt der Tochter Annette den Bach runtergeht – Anns Bühnenkarrierestern steigt, der von Henry sinkt, „verliebt sein macht krank“, gibt er ironiefrei im Comedyclub zu, und reproduziert die alte misogyne Mär des Ewigweiblichen, das den Männergeist vom kreativen Schaffen abhält.
Dabei ist das gemeinsame Baby Annette „a doll“, und zwar im wortwörtlichen Sinn: Es handelt sich um eine Bauchrednerpuppe.
Und das alles, den Narzissmus, die Misogynie, die Liebe, die Bauchrednerpuppe mit ihren schwergängigen Knopfaugen, das Artifizielle der Settings, den Surrealismus muss man sich nun auch noch gesungen vorstellen: „Annette“ ist 100 Prozent Musical – zumindest das, was eine Popband wie Sparks sich darunter vorstellt. Kann das, beim Geiste von Oscar Hammersein, Cole Porter, Stephen Sondheim und dem lebendigen Andrew Lloyd Webber überhaupt gut gehen …?
Liebevolles Zitat und höhnische Parodie
Die Frage lässt sich kaum beantworten. Der Film beginnt furios und erleuchtend, sämtliche Beteiligten, inklusive Schauspieler:innen, Carax und seine Tochter, legen eine großartige, per Plansequenz gedrehte „May we start?“-Nummer hin, stürmen aus dem Studio auf die Straße, marschieren im Takt singend frontal auf die Kamera zu, in jener klassischen Musical-Ensemble-Ansprache zum Publikum beziehungsweise zur vierten Wand: Hier erlebt man liebevolles Zitat und höhnische Parodie zugleich. Auch einige andere Lieder, von Sparks mit ihrem typischen Pathos unterlegt, sind enorm gelungen.
Doch „Annette“, dessen Story kruder und alberner und leider auch nerviger wird, je tapferer sich die bemühten, aber mediokren Sänger:innen Driver und Cotillard an ihren Songs abstrampeln, verhakt sich nach einer Stunde (und dann geht es noch 80 Minuten weiter) in der Kluft zwischen Wollen und Können.
Sparks und Carax wollen ein Musical parodieren, sie wollen etwas anderes, Neues schaffen, etwas, in dem Machos nach dem Cunnilingus singen, Frauen Bauchrednerpuppen geboren werden und das Publikum interaktiv eingreift. Doch sie können es nicht wirklich. Denn um etwas zu parodieren, darf man es lieben oder hassen – vor allem muss man es durchdringen.
Empfohlener externer Inhalt
Trailer „Annette“
In der Idee des Singens um des Dramas wegen, die sich im Film auch auf die Oper erstreckt – „Ich sterbe jeden Abend“, schmettert Sopranistin Ann mit großem Bohei –, steckt jedoch eine bei den Machern erahnbare, dünkelhafte Vermutung des Unterkomplexen: Es stimmt, Musicals wirken oft grässlich cheesy, und Opern sind nicht vorbei, bis „the fat lady sings“.
Beides ist musikalisch, technisch und dramaturgisch aber absolut komplex. In den zugrundeliegenden Storys lauern meist ernstzunehmende Konflikte, sei es der Diskurs um Migration und Außenseitertum in „West Side Story“ oder um Korruption und willkürliche Gewalt in „Fidelio“.
Ein narzisstisch-toxischer Mann
Das Drehbuch, auf das sich der Regisseur von „Annette“ bezieht, ist dagegen eine dürftige Sammlung von Klischees – der narzisstisch-toxische Mann, dessen Eigensucht nicht mal vor der Ausbeutung des eigenen Kindes haltmacht; die sich jeden Abend hingebende Frau; der von Simon Helberg gespielte unzufriedene Korrepetitor, der eigentlich Dirigent sein will; das geistlose Publikum, das den Comedian belacht, aber sein Leid nicht wirklich versteht.
Keiner von diesen potenziell interessanten Charakterzügen wird von Carax und Sparks unterfüttert, keine Figur bekommt eine zweite Ebene: Sparks haben ein Drehbuch aus Tableaus abgeliefert, die Carax nicht wirklich sinnvoll zusammenzufügen vermag.
Nicht mal der chorisch eingefügte Hinweis auf eine #MeToo-Vergangenheit des notorischen Henry erfährt ein Payback. Stattdessen hält man sich kollektiv mit dem Singen der wackeligen Handlung auf. In Liedern, die wie Musicalsongs klingen könnten, aber eher einem Konzeptalbum gleichen. Irgendwo zwischen dieser Art von Naserümpfen und dem heimlichen Wunsch, die Musik auf fast sämtlichen sinnlichen Ebenen darzubieten, bewegt sich „Annette“.
Das fliegende, surreale Baby Annette
Um es klar zu sagen: Ein sehenswerter Trip ist dieser Film dennoch. Selbstverständlich machen die Bilder des „Die Liebenden von Pont-Neuf“-Regisseurs großen Spaß – der wie ein Stück Weißkäse strahlende Vollmond, das fliegende, surreale Baby Annette, das durch seine Engelsstimme zu Henrys Broterwerb wird, der wütende Henry, der zum „Dampfablassen“ in einen Nachtclub geht und dort betrunken und selbstmitleidig vor sich hin sinniert: „Wie kann man mich lieben? Ich bin hässlich und uncharmant.“
Der Fleiß, mit dem Adam Driver alias Henry den Noten folgt und permanent eine Oktave über seiner Sprechstimme zu belcantieren versucht, ist zudem beeindruckend. Cotillard hat dagegen weniger Vokaleinsätze – ihre Opernarien wurden von einer ausgebildeten Mezzosopranistin gedoubelt.
Das, was Carax und Sparks vielleicht im Sinn hatten, den alternativen, anarchischen Musikfilm, gibt es übrigens längst: Die Verfilmung des gleichnamigen Musicals als „Rocky Horror Picture Show“, „Breaking Glass“ von Brian Gibson, Alan Parker inszenierte mit „Fame“ und zwei Jahre später mit dem sinisteren „The Wall“ Träume und Albträume von Künstler:innen. „Annette“ sieht zum Teil klasse aus. Emotional bleibt man aber draußen, im Dunkel des Publikumsraums. Die vierte Wand ist undurchdringlich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!