Festnahme von zehnjährigem Russen: „Hamlet“ rezitieren ist verdächtig?
Weil er im Moskauer Zentrum Gedichte aufsagt, wird ein Junge von der Polizei abgeführt. Seiner Familie wird eine Reihe von Straftaten vorgeworfen.
Am Freitagabend wählte Oskar aus seinem Repertoire das Stück eines Engländers und die Rolle eines dänischen Prinzen aus. Shakespears „Hamlet“. „Sein oder Nichtsein“ ist auch für russisches Publikum keine unbekannte Frage.
Doch diesmal lief etwas gehörig schief. Ein Polizeiwagen näherte sich, die dreiköpfige Besatzung stürmte auf Oskar zu und wollte ihn mit auf die Wache nehmen. Der Junge im Zangengriff schrie wie am Spieß und rief den Umstehenden zu: „Rettet mich.“ Schließlich tauchte eine Frau auf, die sich als seine Stiefmutter herausstellte. 25 Meter weiter hatte sie auf einer Bank gesessen. Sie bat die Polizei den Jungen loszulassen. Die Situation eskalierte, links und rechts ging jemand zu Boden, Oskar verschwand im Polizeiwagen und landete auf der Wache. Das lässt sich im Internet ausführlich verfolgen.
Man könnte zunächst meinen, die Polizei wollte potentiellen Störern vorgreifen. Wer Engländer zitiert, öffentlich in die Rolle eines Dänen schlüpft, zumal eines Prinzen, macht sich derzeit verdächtig.
Bislang übt sich die Polizei noch darin, die Rechtsverstöße der Familie aufzulisten. Der Mutter könnte eine Strafe wegen Ungehorsam oder Widerstand gegen die Staatsgewalt drohen. Der Vater musste schon eine Geldbuße wegen Vernachlässigung der elterlichen Aufsichtspflicht entrichten. Doch wer will schon sicher wissen, ob er den Filius nicht zum gewerbsmäßigen Betteln auf die Straße schickt? Wer bettelt, klagt der nicht auch den Mangel staatlicher Leistung an?
Es fing als Therapie eines sprechbehinderten, komplexbeladenen kleinen Jungen an, der aus der Behandlung schauspielerische Leidenschaft entwickelte. Wer Komplexe überwindet, macht sich auch verdächtig.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!