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Festivallei­te­r*in­nen über Freie Szene„Existenzsorgen sind hinderlich“

Bei „Hauptsache frei“ stellt sich Hamburgs Theater- und Performance-Szene vor. Wie geht es Künstler*innen, wenn die Pandemie-Fördertöpfe leer sind?

Sinnbild für die freie Szene: Verena Brakoniers anti-klassistische Performance „Auto-Fiktion“ Foto: Simone Scardovelli
Interview von Katrin Ullmann

taz: Christine Grosche, Jens Dietrich, es ist das letzte Festival „Hauptsache frei“ unter Ihrer künstlerischen Leitung – die rotiert alle drei Jahre. Gehen Sie mit einem lachenden und einem weinenden Auge ab?

Jens Dietrich: Die Ambivalenz trifft es ganz gut. Wir haben die Hamburger Szene in den letzten drei Jahren intensiv kennengelernt. Beim Kuratieren war es uns wichtig, die Bandbreite und Vielfalt der Hamburger Produktionen zu zeigen, was eine tolle Aufgabe ist. Jetzt freue ich mich dann aber wieder darauf, wieder mehr Zeit für die künstlerische Arbeit in unserem Musiktheaterkollektiv „Sounding Situations“ zu haben.

Christine Grosche: Unsere Leitung hat mit dem Beginn der Pandemie begonnen, sodass auf uns noch mal ganz andere Herausforderungen zugekommen sind. Am Anfang hat es viel Kraft und Energie gebraucht, das Festival nach unseren Vorstellungen ins Laufen zu bringen. Jetzt, bei unserer dritten Ausgabe, haben wir das Gefühl, dass sich mit dem Ende der Pandemie endlich auch mal wieder Routinen einstellen können.

Tun sie das?

Bild: Daniel Müller
Im Interview: Jens Dietrich

Dramaturg, Regisseur und Kurator, arbeitet seit 2004 freiberuflich. Sein Schwerpunkt liegt auf recherchebasiertem, politischem Theater.

Grosche: Planungssicherheit schafft eine gute Basis, von der aus es sich dann auch wieder kreativer arbeiten lässt. Außerdem sind wir als Team gut zusammengewachsen. Es fällt uns also schon etwas schwer, diese Strukturen nach nur drei Jahren wieder auflösen zu müssen. Wir sind aber auch sehr gespannt darauf, was das nachfolgende Leitungsteam aus dem Festival macht.

Das Festival wurde und wird für die nächsten drei Jahre von der Hamburger Kulturbehörde mit 375.000 Euro gefördert. Auf Ihrer Website listen Sie weitere Förderer auf. Was kostet das Festival tatsächlich?

Im Interview: Christine Grosche

Kunstvermittlerin und Kuratorin, ist seit 2020 Teil des Kollektivs „Die Neue Kompanie“; ebenso lange leitet sie mit Jens Dietrich das Festival.

Dietrich: Die Behörde fördert das Festival jährlich mit 125.000 Euro. Durch Bundesmittel über den Verbund „Festivalfriends“ und Stiftungen haben wir dieses Jahr ein Budget von 259.000 Euro. Das reicht, um elf Produktionen zu zeigen.

Können die Beteiligten davon leben?

Grosche: Niemand aus unserem Team kann allein von dem Honorar des Festivals leben. Wir haben alle noch andere Projekte in der freien Szene oder auch Jobs in anderen Bereichen außerhalb der Kunst.

Soll­te man von der Kunst leben können? Ehrlich gesagt, vom freien Kulturjournalismus kann ich selbst es nicht.

Dietrich: Unbedingt. Ich halte nichts von dem Narrativ, dass gute Kunst aus einer prekären Situation entsteht. Gute Kunst entsteht meiner Erfahrung nach aus einer Situation, in der Künst­le­r*in­nen die Freiheit haben, sich einem Thema zu widmen. Existenzsorgen sind da hinderlich.

Bis zum 29. April werden elf Produktionen zu sehen sein, sechs weniger als im vergangenen Jahr. Eine künstlerische Entscheidung oder eine ökonomische?

Grosche: Eine ökonomische! Die Honoraruntergrenze von freischaffenden Künst­le­r*in­nen ist gestiegen, was sehr notwendig war. Das bedeutet, dass die einzuladenden Produktionen teurer geworden sind und auch die Honorare der Mitarbeitenden des Festivals gestiegen.

Das Festival

„Hauptsache frei #9“: bis 29. 4. 23, Hamburg, diverse Spielorte. Alle Infos: www.hauptsachefrei.de

Was haben Sie in den vergangenen Jahren über die Hamburger freie Szene gelernt?

Grosche: Wir konnten beobachten, dass es nicht nur mehr Stücke gibt, die ihre Vielfalt abbilden, sondern darüber hinaus auch die Qualität der künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten der Szene gestiegen ist. Dies hängt sicher zum einen zusammen mit der Verdoppelung des Förderetats 2019/2020 für die freien darstellenden Künste in Hamburg als auch mit den dazugewonnenen Förderinstrumenten der Neustart- Kultur-Gelder: Die ermöglichen intensivere Recherchen, längere Probenphasen und mehr Kooperationen.

Diese zusätzlichen Instrumente gibt es nun nicht mehr: Einer für die kommende Spielzeit beantragten Summe von 2.484.371,35 Euro – das sind alle Anträge im Bereich Sprechtheater, Musiktheater, Performance – stehen 390.000 bewilligte Euro Förderung gegenüber. Das entspricht dem Vor-Corona-Niveau. Wenn man der freien Szene den Puls misst, ist da noch ein Herzschlag zu spüren?

Grosche: Nach dem anfänglichen Schock ist der Puls auf 180. Die freie Szene kommt zusammen und plant viele Aktionen, um auf schwierige Situation zu reagieren.

Jens Dietrich, Sie selbst sind im Vorstand des Dachverbands freie darstellende Künste Hamburg. Wie viel Erste Hilfe kann der leisten?

Dietrich: Als Interessenvertretung mit mittlerweile mehr als 300 Mitgliedern organisieren wir neben Fortbildungen Aktionen wie „Freie Szene trifft Politik“.

Was passiert da genau?

Dietrich: Künst­le­r*in­nen machen Abgeordneten deutlich, wie ihre Arbeit aussieht und welchen Impact Kunst für die Gesellschaft haben kann. Solche politischen Aktionen sind wichtig, um als Künst­le­r*in in die Handlungsfähigkeit zu kommen.

„Wir müssen miteinander eine Strategie entwickeln, wie wir begründen, welche Förderinstrumente wir künftig brauchen, damit wir die Struktur- und Professionalisierungseffekte fortsetzen können“: Das sagte Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda (SPD) Anfang Februar auf so einer Veranstaltung. Warme Worte, solidarischer Schulterschluss – werden Taten folgen?

Dietrich: Jetzt merken die Künst­le­r*in­nen erst mal krass die Abbruchkante der Förderungen in 2023/24. Die nächste Spielzeit wird hart. Wir sehen die freie Szene als essenziellen Bestandteil der Kulturszene Hamburgs und sind in Verhandlungen mit der Behörde über den Ausbau der Förderinstrumente für den nächsten Doppelhaushalt. Da braucht es einen signifikanten Aufwuchs, damit die Künst­le­r*in­nen in Hamburg gehalten werden können.

Die Fachjury im Bereich Sprechtheater, Musiktheater und Performance konnte nicht einmal 20 Prozent der gestellten Förderanträge bewilligen. Welche Auswirkungen hat das auf die nächste Ausgabe von „Hauptsache frei“ – dann ja ohne Sie?

Grosche: Es wird schwer, weiterhin zu behaupten, das Festival sei das „Schaufenster“ der freien Szene, wenn nur ein Bruchteil der vielen Ideen und Konzepte umgesetzt werden können – und dementsprechend noch mal weniger Stücke beim Festival gezeigt.

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1 Kommentar

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  • "Soll­te man von der Kunst leben können?"



    Ich finde diesen Ansatz schwierig, außer vielleicht man legt den Erweiterten Kunstbegriff von Joseph Beuys zugrunde ( de.wikipedia.org/w...erter_Kunstbegriff ): Jeder Mensch ist ein Künstler.

    Das ist ein bisschen wie mit "man muss von seiner Hände Arbeit leben können."

    Der Punkt ist: Man sollte sowieso leben können, immer und auch, wenn man nichts zustande bringt. Existenzsorgen sind nämlich nicht nur für Künstler hinderlich.

    (Ich habe übrigens einen Abschluss als Musiker.)