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Festival „Zeit für Zirkus“Die Evolution auf dem Laufband

Im Festival „Zeit für Zirkus“ entwickeln Artisten neue Formen des Erzählens. Kunst und Theater rücken näher, soziale Schieflagen werden zum Thema.

Ein gelungenes Beispiel für die narrativen Qualitäten des zeitgenössischen Zirkus: „Runners“ Foto: Alex Allison

Köln taz | Der zeitgenössische Zirkus wird urban. Im Glaskasten des Hauses der Architektur mitten in Köln bereitet Benjamin Richter sein Jonglage-Projekt „Taktil“ unter den Augen zahlreicher obdachloser Menschen vor. Der Platz rings um den markanten Glas-Beton-Würfel ist zumindest nachts Heimat mancher Wohnungsloser. Geruchsschwaden von Urin weisen auf nur notdürftig gestillte Bedürfnisse hin. Manche Menschen, die noch ihre Schlafutensilien mit sich tragen, schauen jetzt durch die Fenster. Einer applaudiert sogar, als Richter weiße Holzquader geschickt balanciert und daraus fragile Türme baut.

Richter, praktizierender Jongleur sowie Wissenschaftler an der Zirkusuniversität Stockholm, verkörpert par excellence die neue Zirkuskultur. Die zeichnet sich durch den „nonhuman turn“ aus. Der beruht auf dem Willen, sich vom anthropozentrischen Charakter bei der Jonglage zu entfernen. „Es ging nicht mehr darum, dass der Jongleur im Mittelpunkt steht, mit seinen Fertigkeiten, die Objekte virtuos in der Luft zu halten. Vielmehr wurden die Beziehungen zu den Objekten wichtiger“, erzählt Richter. Es handele sich um eine neue Art, die Welt, die Objekte und Phänomene wahrzunehmen.

„Der Raum ist auch ein Objekt, hat Qualitäten, die einen Einfluss haben auf mich als Mensch. Und wenn ich sensibel bin für diese Eigenschaften, dann kann ich mich davon bewegen lassen“, ergänzt er. Und so neigt er zuweilen den Oberkörper, wenn er sich einer diagonalen Linie im Raum nähert. Oder er schlägt im Gehen einen Bogen, wenn ein Weinglas im Weg steht. Seine Objekte sind ohnehin ungewöhlich. Er balanciert mit einer Hand ein Weinglas, mit der anderen greift er einen von Wind und Wetter rund geformten Lavastein aus Island.

Die meisten Objekte im Raum sind aber weiße längliche Quader, Stelen ähnlich, auf denen in Galerien Kleinskulpturen präsentiert werden. Die Annäherung an Installationsformen der bildenden Kunst ist Konzept wie auch das Format der durational performance, das Richter für sein sehr meditatives Raum- und Objekterforschungsprojekt „Taktil“ gewählt hat.

Zeitgenössischer Zirkus kann aber auch rasant sein und komische Qualitäten aufweisen. In „Runners“ befinden sich die beiden Performer Jonas Schiffauer und Pieter Visser auf zwei Laufbändern. Der Musiker Moises Mas García treibt sie mit seinen Rhythmen und auch der Steuerung der Laufbänder mit seiner Hand an. Im Laufen, das mal ein gemütliches Joggen, mal ein schweißtreibendes Rasen sein kann, jonglieren Schiffauer und Visser zugleich mit Bällen. Sie werfen sie sich auch zu oder schießen sich ab wie in einem Duell.

Geschichte und Parodie

Bei dieser Westernparodie, aber auch bei anderen komischen Elementen kommt die frühere Clownsausbildung der Compagnie-Gründer Schiffauer und Alex Allison (Letzterer wurde wegen einer Verletzung durch Visser ersetzt) durch.

„Runners“ erzählt über Körperformen, immer verbunden mit Jonglageübungen, die klassische Evolutionsgeschichte des Menschen, vom gebückt laufenden Hominiden über den Homo sapiens bis hin zu dem oft überforderten Ausbeutungsobjekt der Industriegesellschaft, das am Fließband sitzt, zu dem das Laufband dann wurde. „Runners“ ist ein gelungenes Beispiel für die narrativen Qualitäten des zeitgenössischen Zirkus.

Das bundesweite Festival „Zeit für Zirkus“ verschafft ihnen nun mehr Aufmerksamkeit. „Runners“ wurde etwa in Kooperation mit der studiobühneköln gezeigt. In Köln sind insgesamt neun Orte beteiligt, nur einer davon ist eine klassische Zirkusspielstätte.

In insgesamt elf Städten in Deutschland findet das bis Sonntag gehende Festival statt. Zentren sind Köln und Berlin mit sechs Spielorten, darunter dem Zirkuspionier Chamäleon. Die Programme in beiden Städten sind zumindest zeitlich aufeinander abgestimmt. Shutt­leservice wie etwa bei der Langen Nacht der Museen oder der Langen Nacht der Theater gibt es aber nicht. „Das wäre ein Ziel, aber dazu braucht es extra Geld“, betonen sowohl Chamäleon-Chefin Anke Politz als auch die Kölnerin Jenny Patschovsky, Vorsitzende des Bundesverbandes für Zeitgenössischen Zirkus (BUZZ).

Der zeitgenössische Zirkus erobert zwar immer mehr Bühnen und Orte, muss aber auch Rückschläge verkraften

Das Chamäleon beteiligt sich mit dem Gastspiel „Out of Chaos“ der australischen Compagnie Gravity & Other Myths am Festival. Die Vorführung ist im Stil einer Nachtwanderung gehalten, eine Exkursion zu dynamischen und statischen Konstruktionen aus menschlichen Leibern. Wie bei der Kölner Show „Runners“ strukturiert auch hier die Musik Szenen der Bewegungen. Klang ist nicht Garnitur, sondern ebenbürtiger Mitspieler, ganz im Sinne eines Gesamtkunstwerks.

Der zeitgenössische Zirkus erobert zwar immer mehr Bühnen und Orte, muss aber auch Rückschläge verkraften. In Bochum etwa wurden alle Veranstaltungen wegen Förderproblemen beim lokalen Veranstalter Projektbüro Neuer Zirkus Ruhr abgesagt. Auch das mit den lokalen Initiativen verbundene Projekt einer universitären Ausbildungsstätte für den Zeitgenössischen Zirkus gerät aktuell in Verzug.

All das ist wiederum weniger existenziell als die Sorgen, die die obdachlosen Zu­schaue­r*in­nen in Köln plagen. „Zeit für Zirkus“ machte auf eine Vielzahl von Problemlagen aufmerksam. Nicht die geringste darunter waren mit Blick auf die Energiekrise die Heißluftgebläse im Zirkuszelt.

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