Festival „Pop-Kultur“ in Berlin: Rhythmus statt Algorithmus

Wilder Stilmix, inklusiv nicht nur auf dem Papier und für alle Altersklassen interessant: Eindrücke vom Festival Pop-Kultur in Berlin.

die Künstlerin L Twills auf der Bühne

L Twills (Lila-Zoé Krauß) bringt ihr Auftragswerk beim Festival-Pop-Kultur in Berlin zur Aufführung Foto: Roland Owsnitzki

Die Zeiten, in denen sich die großen Gesellschaftserzählungen an Popmusik festmachen ließen, sind längst vorbei. Das Bedürfnis, sich via Pop auf ein Gedankenspiel oder eine Performance einzulassen oder einfach Entgrenzung zu finden, scheint dagegen größer denn je – so der Eindruck nach drei Tagen Pop-Kultur-Festival, das von letzter Woche Mittwoch bis Freitag in der Berliner Kulturbrauerei stattfand.

Bemerkenswert war nicht zuletzt die Gleichzeitigkeit unterschiedlichster Pop-Erzählungen, die in Herz, Kopf und Bauch unerwartet überlappen: etwa beim wuchtigen und dabei jazzig flink daherkommenden Post-Punk von Crack Cloud, einem kanadischen Kol­lektiv. Dessen Mitglieder sind einander in Reha-Programmen für Sucht- und andere Psychoprobleme begegnet – als therapeutische Unterstützer und Patienten. Nun suchen sie Katharsis im soghaften Klang.

Oder bei der Musikerin und Schauspielerin Mariana Sadovska, die mit dem ­Projekt Vesna traditionelle Lieder und Gedichte aus der Ukraine in neuem Kontext präsentiert. Mit der Dringlichkeit, die ukrainische Künst­le­r:in­nen in diesen Kriegszeiten ­notgedrungen auf die Bühne bringen, dringt die ukrainische Künstlerin auch zum Publikum durch.

Auf völlig anderem Terrain bewegt sich die Berliner Avant-Popkünstlerin L Twills, die ihr Album „After her Destruction“ als Auftragsarbeit beim Festival präsentiert. In Videokapiteln und unterstützt von Tän­ze­r:in­nen will ihre Protagonistin herausfinden, ob ihr Gehirn mutiert ist. Commissioned Works – also Auftragsarbeiten – wie diese sind eine Besonderheit des Festivals und überzeugen mal mehr, mal weniger: Auf Soundebene interessant, wäre L Twills Projekt wirkmächtiger, wenn weniger Science-Fiction-Budenzauber und mehr Gegenwart darin steckte.

Eine Rede als habe ChatGPT sie generiert

Schließlich durchdringt die Digitalisierung ganz real immer mehr Lebensbereiche. Algorithmen entscheiden über Erfahrungswelten und damit auch das Futter für unsere Gehirne. Da darf man ruhig mal nervös werden.

Das Herumstromern auf dieser neunten Festival-Ausgabe liefert mit seinen Serendipitätsmomenten auch dazu ein Gegenangebot. Die Rede von sozialer Spaltung und Kultur als Antidot ist dagegen zum Allgemeinplatz verkommen. Und so fallen auch die kulturpolitischen Selbstverortungen ähnlich aus, zumindest auf dem Papier, zumindest im demokratischen Spektrum: (Pop-)Kultur als Kitt einer Gesellschaft, die auseinanderdriftet – darauf können sich auch die Red­ne­r:in­nen zur Eröffnung einigen.

Joe Chialo (CDU), Berlins neuer Kultursenator, wird von Katja Lucker, die als Geschäftsführerin des Musicboard Berlin zugleich Festivalchefin ist, als jemand vorgestellt, der aus einem „Luxuskaufhaus eine Bibliothek machen will“. Heute allerdings gibt es keine originellen Ideen. Chialos Rede wirkt so versatzstückhaft, als habe ChatGPT sie generiert.

Geschlechterrealität im Musikgeschäft

Mehr persönliche Motivation scheint durch, als er später, animiert durch eine Publikumsbegegnung mit einem Bekannten aus Tansania, der Heimat seiner Eltern, nochmal in etwas übergriffiger Manier die Bühne kapert und für einen anderen Blick auf Afrika wirbt. Für Kulturtransfers in beide Richtungen – die auf diesem Festival ja schon gelebt werden. Zu erleben ist das etwa bei der gemeinsamen Show von Aka Kelzz und Ria Boss, die aus einer ­Accra-Berlin-Künstlerresidenz hervorgegangen ist.

Mehr Substanz kommt von Anikó Glogowski-Merten, kulturpolitischer Sprecherin der FDP-Bundestags­fraktion. Sie thematisiert nach deprimierenden Statistiken über die Geschlechterrealität im Musikgeschäft recht leidenschaftlich, wie Kulturschaffende in Hinblick auf die Vereinbarkeit von Beruf und ­Familie allein gelassen werden – was vor dem Hintergrund der Diskus­sionen der letzten Wochen und den ­Po­sitio­nen ihrer Partei zum Thema Kindergrundsicherung etwas bizarr anmutet.

Doch immerhin legt Glogowski-Merten den Finger in die Wunde, dass gerade in etlichen sich als progressiv verstehenden Kultur­einrichtungen Arbeitsstrukturen oft rückständiger sind als in so manch börsennotiertem Unternehmen.

Neben geschlechtergerechtem Booking – in diesem Jahr stehen gefühlt sogar deutlich mehr Frauen auf der Bühne – ist Inklusion ein Kern­anliegen des Festivals. Was in der jüngsten Vergangenheit bisweilen etwas didaktisch und blutleer d­aherkam, wirkt diesmal nach gelebter Realität – und wird entsprechend gefeiert, etwa bei der Show von Drag Syndrom. Das Londoner Kollektiv aus Drag-Queens und -Kings mit Down-Syndrom performt in futuristischen DIY-Kostümen zu Popsongs; Euphorie flirrt durch den Raum.

Lokale Kräfte statt Headliner

Im Hof und im angrenzenden Kino läuft derweil ein kostenloses Rahmenprogramm. Das besteht etwa aus Karaoke in der Çaystube oder auch dem diesjährigen Schwerpunkt „Can We Kick it?“. Dabei wird dem emanzipatorischen Potenzial von Fußball nachgegangen, was jedoch etwas aufgepfropft wirkt.

Die Rede von sozialer Spaltung und Kultur als Antidot ist dagegen zum Allgemeinplatz verkommen

Als stimmig dagegen erweist sich der immer konsequenter durchgezogene Verzicht auf Headliner, zugunsten lokaler Kräfte: etwa Nashi44, Rapperin mit vietnamesischen Wurzeln, die so lustig wie scharfzüngig Projektionen auf asiatisch gelesene Frauen zerlegt. Die Indie-Musikerin Katharina Kollmann alias Nicht­seattle wird derweil von ihrem Kaufhallenchor aus Prenzlauer Berg unterstützt, was dem Publikum das Herz aufgehen lässt. Mit dieser bunten Mischung aus Hobby-Sänger:innen probt sie allwöchentlich.

Charlotte Brandi, einst bei Me And My Drummer, aber seither solo viel interessanter unterwegs, sorgt mit ihrem beunruhigend-­betörenden Chanson-Artpop für die längste Einlassschlange.

Anders an bei so manch früherer Festivalausgabe, wo doch eher ein Ü30-Publikum den Weg in die Kulturbrauerei findet, performt die Berliner Rapperin Wa22ermann vor einer enthusiastischen Crowd, in deren Mitte man sich wie auf einer Schulparty in der Aula fühlt – während nebenbei die New Yorker Slowcore-Combo Codeine einen Song von 1993 mit den Worten anmoderiert, da sei das Gros des Publikum ja wohl noch in der Grundschule gewesen. So gemischt war Pop-Kultur bisher selten.

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