„Geht raus! Hört zu! “

Die Grünen-Spitze präsentiert ihrer Partei acht „Lehren“ aus dem Absturz bei der Europawahl. Sie wollen weniger belehren – und nicht zurück in die Nische

Ricarda Lang (l.) und Omid Nouripour (r.) schlagen vor, häufiger Leute zu treffen, „die uns nicht mögen“ Foto: Christoph Soeder/dpa

Von Sabine am Orde

Es gibt keine Säulendiagramme und keine bunten Kurven. Stattdessen ein iPad, das mit ein paar knappen Sätzen in die Kamera gehalten wird. Wer Analysen zu Wählerwanderungen und Kompetenzwerten, Einschätzungen zur Bedeutung der grünen Migrationspolitik oder der Kompromissbereitschaft in der Ampel bei Klimafragen von der Grünen-Spitze erwartet hatte – der wurde am Mittwochabend enttäuscht.

Ricarda Lang und Omid Nouripour, die beiden Vorsitzenden, hatten die Parteimitglieder zu einem Webinar zum Ergebnis der Europawahl eingeladen und 1.500 schalteten sich zu. Das Ergebnis der Wahl vor gut fünf Wochen war schlecht, die Partei ist entsprechend verunsichert. 11,9 Prozent, das war noch weniger, als die Grünen ohnehin befürchtet hatten. Zudem: Die jungen Wäh­le­r*in­nen, derer sich die Grünen so sicher glaubten, haben sich abgewandt. Wo also lagen die Fehler?

Mit Analyse aber halten sich Lang und Nouripour nicht lange auf. Sie präsentieren acht „Lehren“ aus der Europawahl. Die erste und wohl eine der wichtigsten: „Die Menschen fühlen sich von der Politik nicht gehört und werden es zu wenig – auch von uns. Das ändern wir.“ Die Entfremdung zwischen Politik und Bürgerinnen und Bürgern sei groß, sagt Lang. Man dringe mit vielen Botschaften nicht durch, weil die Menschen nicht das Gefühl hätten, dass man sich für ihre Realität wirklich interessiere. Es ist ein alter Vorwurf an die Grünen – nur: Wie kann man ihn abbauen? „Wir wollen möglichst großen Abstand von einer Politik des Imperativs nehmen, die den Menschen sagt, was sie vermeintlich tun und lassen sollten oder müssen“, sagt die Grünen-Chefin.

Man wolle besser Zuhören und bei Veranstaltungen mehr auf Dialog setzen, dazu auch neue Formate wie Bürgerforen entwickeln. Und sich so auf dem Weg zum Bundestagswahlprogramm etwa einen „Realitätscheck“ abholen. Später, bei der Fragerunde, empfiehlt Lang noch: „Geht raus! Trefft euch nicht nur mit denen, mit denen ihr euch schon immer getroffen habt.“ Und schlägt den Bauernverband vor oder Unternehmen vor Ort, „die gegen uns sind“.

Eins wird schnell klar: Die Grünen, die bei der Europawahl „in der Stammwählerschaft verloren und gleichzeitig an anderen Stellen nicht dazugewonnen“ haben, wie die Parteichefin sagt, wollen auf keinen Fall zurück in die Nische. Zumindest die Grünen-Spitze will das nicht. In der Partei – besonders im linken Flügel, zu dem auch Lang gehört – wird durchaus diskutiert, ob man nicht wieder stärker die Ansprüche der Kernklientel berücksichtigen müsse.

Man könne sich bei der Organisation von Mehrheiten kein Entweder-oder leisten, heißt es dagegen in einer weiteren „Lehre“ der beiden Parteichef*innen.„Wir kämpfen um unsere Stammwählerschaft ebenso wie um das erweiterte Potenzial. Dabei sind wir klar in Werten und Zielen und pragmatisch im Weg.“ Nicht nur hier, aber hier besonders klingt Wirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck durch, mit dem die „Lehren“ natürlich abgesprochen sind. Seit Annalena Baerbock in der vergangenen Woche verkündet hatte, nicht länger um den Job als Kanzlerkandidatin kämpfen zu wollen, ist klar, dass Habeck es wird. Bei der Bundestagswahl 2025, sagt Nouripour, wollen die Grünen ihren Wahlkampf auf eine Person zuspitzen. Habecks Namen nennt er nicht, die offizielle Verkündung steht ja noch aus.

Auch mit vielen Mi­nis­te­r*in­nen in Bund und Ländern, mit der Bundestagsfraktion, Parteimitgliedern und mit externen Ex­per­t*in­nen hat sich der grüne Bundesvorstand zur Vorbereitung seiner „Lehren“ ausgetauscht. „Die Menschen haben berechtigte Sorgen – und das Gefühl, dass wir an diesen vorbeireden. Wir bieten handfeste Antworten auf die Probleme im Alltag der Menschen“, so lautet eine weitere. „Unser Claim ‚Machen, was zählt‘ war richtig als Anspruch, aber wurde uns nicht abgenommen“, sagt Nouripour und betont: Die Grünen wollen nun einen stärkeren Fokus auf die sozialen Fragen legen. Dass die Bundesregierung gerade mit der Kindergrundsicherung ihr zentrales sozialpolitisches Projekt schreddert, erwähnt er nicht.

Und was heißt diese „Lehre“ für das Thema Migration, will jemand später in der Fragerunde wissen. Wie nehme man das Gefühl eines Kontrollverlusts ernst und bewahre gleichzeitig die eigene Position? Man müsse die Sorge annehmen, betont Lang. Wenn man das nicht tue, gingen die Leute „zu den anderen“. Nicht Ängste schüren, sondern zeigen, wie es besser gehe. Der Versuch, intern einen Kompromiss zu finden, dürfe nicht dazu führen, nach außen unklar zu sein. Beides müsse klar werden: „Sowohl, dass es den Wunsch nach Ordnung gibt, aber dass wir auch für Menschenrechte einstehen.“

„Möglichst Abstand von einer Politik des Imperativs nehmen“

Ricarda Lang, Grünen-Co-Vorsitzende

Die Grünen wollen auch, so eine weitere „Lehre“, ihre Kernthemen Klima- und Naturschutz unterstreichen. „Wir machen sie wieder stärker hörbar“, sagt Nouripour. In der Stammwählerschaft würden die Grünen für ihr ökologisches Profil und dessen Verknüpfung mit verwandten Themenbereichen gewählt.

Die Grünen werden bald sehen können, ob sie die richtigen Schlüsse gezogen haben. Im September stehen die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg an.

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