Fehlende Impfungen wegen Corona: Wenn Masern töten
Im März empfahl die Weltgesundheitsorganisation, wichtige Impfprogramme wegen Covid-19 zu unterbrechen – ein möglicherweise fataler Fehler.
Die Maßnahmen gegen die Coronapandemie könnte in vielen armen Ländern Hundertausende Todesopfer fordern. Eine Gruppe von Expert*innen wandte sich deshalb jetzt in einem im Magazin Science veröffentlichten Brief an die Weltgesundheitsorganisation, ihre Maßnahmen gegen die Pandemie zu überdenken. „Wir müssen die Prioritäten zur Eindämmung von Covid-19 in Einklang bringen mit Bemühungen, andere hoch ansteckende Krankheiten in armen Ländern zu bekämpfen“, schrieben die Expert*innen, darunter ein Fachmann der WHO selbst.
Als drängendstes Beispiel nennen die Autor*innen Masern. Erkranke in Europa ein Kind daran, habe es Zugang zu Ärzten, Medizin und sei in der Regeln gut ernährt – werde also wieder gesund, sagte Debarati Guha-Sapir der taz, Hauptautorin des Briefes und Epidemiologin an der Katholischen Universität Louvain in Belgien. „Unterernährte und geschwächte Kinder sterben dagegen binnen 48 Stunden, wenn sie Masern bekommen“, sagte Guha-Sapir, die in Ostafrika an der Bekämpfung von Epidemien gearbeitet hat.
Kern des Problems ist, dass selbst ein moderater Rückgang von Impfungen von 15 Prozent in armen Ländern bedeutet, dass 120 Millionen Menschen temporär nicht vor Masern geschützt sind. Das kann zu Ausbrüchen der Krankheit führen, mit mindestens 250.000 toten Kindern allein wegen Masern, wie eine Studie im Fachmagazin The Lancet vom Mai zeigte.
Eine vergangene Woche veröffentlichte Umfrage der Weltgesundheitsorganisation in 67 Entwicklungsländern zeigt, dass der befürchtete Rückgang an Impfungen Realität ist: 85 Prozent der Länder gaben an, sie würden wegen Covid-19 ihre Impfprogramme unterbrechen oder derzeit komplett aufgeben. Und das übrigens auf Anraten der Weltgesundheitsorganisation, die genau das im März diese Jahrs forderte, um Corona einzudämmen.
6.000 Masernopfer im Kongo
Das Impfproblem besteht auch für eine Reihe anderer Krankheiten, sei aber bei den hoch anstecken Masern in armen Ländern besonders gravierend, sagt Guha-Sapir: Die Menschen lebten dort nicht nur auf engstem Raum, sie sind auch im Schnitt deutlich jünger als in den Industrieländern. Sie sind also für Krankheiten wie Masern deutlich anfälliger wie für Covid-19, das bei jungen Menschen oft eher glimpflich verläuft.
Debarati Guha-Sapir, Epidemologin
Im vergangenen Jahr kam es beispielsweise in der Demokratische Republik Kongo zu einem Masern-Ausbruch, weil die Impfraten wegen der Konflikte dort nach unten gingen. Binnen weniger Wochen starben 6.000 Kinder. Guha-Sapir fordert deshalb, die Impfprogramme für Masern und andere Krankheiten so schnell wie möglich wieder aufzunehmen.
Das müssten zwar die Länder vor Ort selbst entscheiden. Und tatsächlich zeigt die WHO-Umfrage, dass viele Staaten mittlerweile Richtlinien dazu entwickelt haben. Sie versuchen, die wegen der Pandemie zum Teil verunsicherte Bevölkerung über Schutzmaßnahmen gegen Covid-19 aufzuklären.
Immerhin drei Viertel der Länder wollen versuchen, die Impflücke wieder zu schließen. Das am häufigsten genannte Hindernis ist aber eines, das direkt mit den Industrieländern zu tun hat: Es fehlt in armen Ländern an Schutzkleidung für das medizinische Personal und für die Menschen, die bei Immunisierungskampagnen von Haus zu Haus gehen.
Guha-Sapir fordert deshalb, dass die reichen Länder nicht nur die Impfstoffe, sondern auch genug Masken und Handschuhe liefern sollen. Es koste auch nur rund einen Dollar, um ein Kind gegen Masern zu schützen. Wenn Covid-19 etwas zeige, dann, dass Gesundheit ein globales Problem sei. „Wenn Impfprogramme abgesagt werden, dann wird das ein Problem für uns alle“, sagte Guha-Sapir. Corona habe schließlich in China begonnen und sich dann auf der ganzen Welt verbreitet: „Auch Europa kann von Masern getroffen werden, schließlich gibt es hier eine starke Bewegung von Impfgegnern.“
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