Favela-Literatur von Geovani Martins: „Echt“ bis in die Satzzeichen

Ein origineller, realistischer, manchmal authentizistischer Blick auf die brasilianischen Favelas: Geovani Martins’ Kurzgeschichten „Aus dem Schatten“.

Häuser einer Favela

Bringt Literatur über sich selbst hervor: Favela in Rio Foto: dpa

Was in der öffentlichen Wahrnehmung brasilianischer Städte oft hängenbleibt, das sind: Waffen und Drogen, manchmal auch Armut, Gewalt und Polizei. Was nach der Lektüre von Geovani Martins’ Buch „Aus dem Schatten“ bleibt, sind Gedanken eines Kindes und Alltagsszenen aus einer Familie oder einer Schule – inmitten von Waffen und Drogen, Armut, Gewalt und Polizei.

Die in den Hang gebauten Favelas von Rio de Janeiro sind nicht nur der Schauplatz von Martins’ jüngst erschienenem Story-Band, sie durchdringen die 13 Kurzgeschichten bis in den letzten Satz und sogar noch bis in die Satzzeichen.

Die Favelas liefern die Sprache, sie stellen die Akteure und Nebenfiguren, sie sind Thema und Metathema zugleich. Martins, geboren 1991, ist in der Favela Rocinha aufgewachsen und lebt heute in Vidigal, noch so ein Armenviertel in Rio. Der Autor kennt sich aus. Kein Wunder also, dass beim Lesen eine authentische Stimme aus den Favelas zu vernehmen ist.

Und eine originelle. Über Beto, einen waffentragenden Dealer, der jemanden getötet hat und nun seine Favela verlassen muss, heißt es in einer Story: „Seine Strafe bestand tatsächlich darin, weggejagt zu werden, und das tat fast noch mehr weh als eine Kugel. Er liebte und hasste seine Favela, niemand würde das je verstehen, geschweige denn erklären können.“

Martins erzählt realistisch. Wie Drogen be- und Leichen entsorgt werden. Über Momente, in denen große Not auf einen kleinen Geldbeutel trifft. Welche Anziehungskraft eine Waffe haben kann und dass Angstverbreiten auch ohne Waffen möglich ist. Welche Männlichkeitsbilder an einem Ort entstehen, an dem über Männlichkeitsbilder nicht gesprochen wird.

Martins kann erzählen, ohne dabei alles zu kontextualisieren, ohne zu viel zu erklären. Gerade in Erzählungen und Stories zeigt sich ja oft, wie gut ein Autor Auslassungen beherrscht – und gemessen an Auslassungen ist Martins’ belletristisches Debüt fast schon meisterhaft.

Beim Erzählen variabel zu sein ist seine Stärke allerdings nicht. Spätestens nach der siebten von 13 Geschichten kippen die knappen Szenen und das dürftig entwickelte Personal in eine Art Authentizismus. Der Drang der Texte, räumlich, personell, thematisch und sprachlich „echt zu wirken“, lässt kaum Platz für andere Stilmittel, die eine literarische Story entwickeln können. Wo man ausschließlich distanzlos das eigene Milieu spiegelt, da werden direkte Ästhetik und „wahrer“ Favela-Sound irgendwann öde. Anders gesagt: Auch Langeweile kann authentisch sein.

Geovani Martins. „Aus dem Schatten“. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Nicolai von Schweder-Schreiner. Suhrkamp, Berlin 2019. 125 Seiten, 18 Euro

„Aus dem Schatten“ ist deswegen dort besonders stark, wo Geovani Martins die räumlichen Grenzen der Favela überwindet und seine Figuren auf Kurzurlaub schickt: an den Strand, in andere Stadtteile, in eine andere Favela, einmal sogar in eine andere Stadt. Dort werden die Identitäten schnell brüchig, stimmen die gewohnten Abläufe nicht mehr, und die Probleme lassen sich nicht mehr mit Waffen oder Drogen lösen oder abwenden. Die lebensphilosophischen Fragen häufen sich.

Diese Fragen wiederum führen zurück in die Favela. Sie sind es, die die einzelnen Geschichten verbinden und die einen begreifen lassen, wie vielschichtig der Blick eines Geovani Martins auf die Favela und – in ihr gespiegelt – auf Teile der brasilianischen Gesellschaft ausfällt.

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