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Fauna auf Kadavern

Zu Besuch bei einem forensischen Entomologen

von GABRIELE GOETTLE

O Aas, das du nichts als Abschaum bist, wer wird dir Gesellschaft leisten? Was aus deinen Säften hervorgeht, Würmer, von der Fäulnis deines elenden, verwesten Fleisches … (ital. 16. Jh.)

Mark Benecke, Dr. med., Kriminalbiologe u. vereid. Gutachter. Abitur 1989 a. Alexander-v.-Humboldt-Gymn. Köln. 1989–1990 Zivildienst (Caritas-Verband Köln). 1990–1994 Studium d. Biologie a. d. Univ. z. Köln, Dipl. Prüf. i. Genetik, Zoologie, Psychologie (Diplomarbeit: „Genetische Fingerabdrücke von Nematodenstämmen“, 1995. Dissertation 1997, „Genetische Fingerabdrücke forensischer biologischer Spuren (Urin, Haare) mittels zweier Multiplexamplifikationen“ (Dr. rer. medic., s. c .l.)). 1998 Zusatzausbildungen i. USA: Auswertung von Blutspritzermustern (b. NYPD/OCME, Manhatten); Erkennung u. Spurensicherung b. Vergewaltigungen (Columbia Univ., New York); Insekten auf Leichen (Simon Fraser Univ./ Mounted Police, Canada) u. 2000 a. d. FBI-Acadamy Quantico, Virginia, Detection and Recovery of Human Remains. Gewähltes Mitgl. intern. Forschungsakademien und forens. Gesellschaften, darunter der Linnean Society of London, d. American Academy of Forensic Sciences, d. International Academy of Legal Medicine, d. Deutschen Gesellschaft f. Rechtsmedizin, d. International Society of Forensic Haemogenetics. Abhaltung v. Kursen u. Gastvorlesungen an Schulen, Fachhochschulen u. Universitäten im In- und Ausland. Ausbilder an Polizeiakademien im In- und Ausland. Aufbau der landesweit einzigen Laboratorien z. DNA-Typisierung (= genetische Fingerabdrücke), u. a. f. Manila, Philippinen u. in Ho Tschi Minh Stadt, Vietnam. Verf. zahlr. wissenschaftl. Beiträge f. in- und ausl. Fachzeitschriften, populärwissenschaftl. Artikel f. Zeitungen & Texte f. Lehrbücher, u. a.: „Leichenerscheinungen und Todeszeitbestimmung. Besiedelung durch Gliedertiere“, i. Handbuch f. Rechtsmedizin, Brinkmann/Madea (Bd. I). Autor allg. verständl. Bücher: „Der Traum vom ewigen Leben“, 1998, „Kriminalbiologie“,1999. Mitherausgeber d. Annals of Improbable Research, Cambridge, USA (Zeitschrift d. Harvard Universität f. Skurriles u. Bizarres i. d. Wissenschaften). Mark Benecke wurde am 26. 8. 1970 in Rosenheim (Bayern) geboren.

Mark Benecke wurde 1997 durch einen Mordprozess bekannt, bei dem er – zusammen mit einem Myrmekologen, einem Ameisenspezialisten – als Gutachter entscheidende Untersuchungsergebnisse lieferte. Drei Schmeißfliegenmaden, vom Körper einer im Wald liegenden erschlagenen Pastorengattin, wurden per Sonderflugzeug zu Benecke nach New York geschickt. Die Altersbestimmung dieser Maden, zusammen mit der Zuordnung einer Ameise vom Gummistiefel des Gatten, überführte den Pastor Klaus Geyer als Mörder seiner Frau. Die biologische Forensik ist ein Spezialgebiet, das sowohl zoologische als auch rechtsmedizinische und kriminalistische Kenntnisse voraussetzt; dazu gehört ein gehöriges Maß an Pedanterie und Hingabe. Entomologen, also Insektenkundler, machen da weiter, wo der Gerichtsmediziner wegen starker Zersetzung der Leiche nur noch begrenzte Aussagen machen kann. Die Insekten auf und in einem Leichnam können nicht nur Hinweise auf Drogen und Gifte liefern, die vielleicht zum Tode geführt haben, sondern auch und vor allem lassen sich anhand ihrer Lebenszyklen, ihrer jeweiligen Größe der Todeszeitpunkt und manchmal der Todesort mit überraschender Präzision bestimmen. Die „Madenuhr“, könnte man sagen, löst die innere biologische Uhr ab, und sie läuft bis zur Skelettierung, witterungs- und lageabhängig, mal nur Monate, mal Jahre. Die forensische Entomologie entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, besonders in Frankreich und Deutschland, wo man sich aus unerforschlichen Gründen ganz besonders heftig für Insekten interessierte. In Frankreich war es Jean-Henri Fabre, der mit seinem enormen insektenkundlichen Werk die Grundlage für forensische Studien schaffte, in Deutschland Alfred Brehm. In seinem Insektenband von 1877 ist auf einem Stich, liebevoll bis ins Detail, ein toter Maulwurf zu sehen, aufgehängt in einem Haselstrauch, besiedelt und umschwirrt von allen heimischen Aasinsekten. Neben seinem Schwanz, ganz klein in der Ferne, ist ein Kirchturm zu sehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg spielte etwas so altmodisch Anmutendes wie die forensische Entomologie überhaupt keine Rolle mehr. In ganz Europa arbeiteten nur drei Wissenschaftler weiter daran, keiner davon in Deutschland. Erst seit wenigen Jahren werden die Methoden wieder entdeckt und praktiziert, besonders in Frankreich, wo es sogar ein eigenes entomologisches Labor der Staatspolizei gibt, dann auch in den USA und in Kanada. In Deutschland existieren seit kurzer Zeit erst zwei Arbeitsgruppen. Eine davon ist die von Mark Benecke.

Er wohnt in der südlichen Altstadt von Köln. Das Mietshaus ist schlicht, die Seitenstraße ruhig. Unter der ganzen Zeile liegt ein römisches Gräberfeld. Neben der Haustür hängt ein seriös wirkendes Messingschild, auf dem Dr. Benecke seine Tätigkeiten avisiert. Die kleine Vierzimmerwohnung liegt im zweiten Stock. Es durftet nach Kuchen. Mark macht uns mit seiner Freundin Corinna bekannt, sie beschäftigt sich mit Business-Chinesisch. Unser Gastgeber führt uns ins Wohnzimmer und sagt: „Den Kuchen habe ich gebacken, einen gedeckten Apfelkuchen, nach Davidis Kochbuch … zum ersten Mal übrigens …“ Wir nehmen Platz in abgewetzten roten Plüschsesseln. Zwischen uns steht ein ausgestopfter Fuchs mit aufmerksamem Glasaugenblick, er hält ein Mobile mit den Pfoten. Auch auf dem verschnörkelten Bücherschrank kauert eine Dreiergruppe junger Füchse, im Spiel erstarrt. Ein ausgestopfter Raubvogel steht neben einem großen indischen Elefantengott. Vor dem Bücherregal hält eine messingfarbene Nixe eine gläserne Tischplatte auf ihrem Kopf, um unseren Tee und den gelungenen Kuchen darauf bereitzuhalten.

Nach dem Vorgeplauder zeigt Mark uns sein Labor im Nebenzimmer. Der Raum ist hell und klein. Schreibtisch mit Computer, eine große Cordcouch und ein paar Schränkchen möblieren ihn. Zwei ausgestopfte Eichelhäher sitzen auf ihrem Zweig, in einer Glasvitrine liegt ein vorsichtig aufgebrochenes und schön präpariertes Wespennest, an der Wand hängen, wie in Amerika üblich, gerahmte Urkunden, unter anderem von einer FBI-Academy, einem Hospital in Manila, dem Zoologischen Garten in Köln. „Ja“, sagt Mark Benecke, „ich habe die Patenschaft für einen Tausendfüßler übernommen. Ich war der erste Wirbellosensponsor.“ Seine Sprechweise ist enorm schnell. „Die meisten nehmen eben Giraffen und Löwen … Was ich also jetzt hier in diesem Raum eigentlich mache, ist erst mal Reduktion. Reduzieren, reduzieren, aufs Wesentliche. Hier zum Beispiel“, er deutet auf ein Aktenhäufchen, „das wird im Herbst im Landgericht verhandelt, ich bin Obergutachter, muss also auch über Gutachten von wesentlich älteren Kollegen entscheiden. Das war ein Riesenstapel, den ich Wort für Wort gelesen habe, und das ist nun alles, was davon übrig ist. Vom Rest der Akten habe ich nur je eine Handakte angelegt. Und in der Natur, dem Bereich, wo ich zuständig bin, da ist es genauso. Bei einer Leiche findet man ja unheimlich viel Getier. Was ist jetzt wichtig, was nicht? Die Milben auch? Bis zu welchem Umkreis soll ich suchen? Was nehme ich mit ins Labor? Milbenbisse zum Beispiel können einen Täter verraten, wenn sie von Milben stammen, die nur am Leichenfundort leben. So, zu meinen ersten Aufgaben gehört, dass ich genau berechne, seit wann der Leichnam an der Fundstelle liegt. Wenn er für Gliedertiere zugänglich gewesen ist, kann ich die Liegedauer, günstigstenfalls, bis auf eine Stunde genau berechnen. Neben den Entwicklungszeiten der verschiedenen Insekten muss ich natürlich auch andere Begleitumstände genauestens kennen wie beispielsweise die Wetter- und besonders die Temperaturverhältnisse, Luftfeuchtigkeit usw. Das erfahre ich von den meteorologischen Instituten.“

Mark deutet auf ein verstöpseltes Gläschen, in dem etwas Bräunliches in einer klaren Flüssigkeit schwimmt: „Das ist jetzt so eine Made da, eine große, die habe ich also von der Leiche. Die kommen hier dann jede in so ein Einheitsgläschen, in billigen Brennspiritus. Diese hier habe ich schon seziert. Zum Teil muss man nämlich das Kopfskelett anschauen, also die Mundwerkzeuge, an denen man dann mit sehr viel Vorsicht und Kenntnis schon vor dem Schlüpfen erkennen kann, um welches Tier es sich handelt. Also, diese Maden hier, die können nur kratzen, deshalb können sie auch nur faules Gewebe aufnehmen. Das, was die Bakterien vorher schon zersetzen, reißen sie auf und fressen’s. Und um mir diese Mundwerkzeuge ganz genau anschauen zu können, habe ich das hier.“ Er nimmt fast andächtig die Hülle von einem großen Mikroskop ab. „Das ist wirklich das Allerallergeilste! Es ist tierisch teuer … also für mich … für normale Menschen vielleicht nicht. Es ist stufenlos und hat die beste Optik, die es auf der Erde derzeit gibt. Es ist absolut unverzichtbar. Und hier habe ich dann noch“, er verhüllt das Mikroskop und klappt ein flaches Köfferchen auf, „meine verschiedenen Pinzetten und Skalpelle in allen Größen. Aber das kann ich natürlich nicht immer bei mir tragen, deshalb habe ich diese Ausrüstung immer bei mir.“ Er deutet auf seinen schwarzen Gürtel, den er um die Hüften trägt und an dem allerhand befestigt ist. „Ich habe nämlich ‚Twenty-four-seven-Service‘. Das heißt 24 Stunden, sieben Tage in der Woche bin ich durchgehend erreichbar, wo immer ich gerade sein mag.“ Ich bitte ihn, auszupacken, was er am Gürtel hat, und er beginnt von links nach rechts, um den Leib herum, alles auf den Tisch zu legen: eine hoch auflösende, kleine Digitalkamera mit Fernauslöser und Austauschchip. Ein zusammenklappbares Multifunktionswerkzeug aus Stahl. Ein normales Taschenmesser, mit dem er auch isst oder im Boden stochert. Hinten in der durchlöcherten Hosentasche hängt eine kleine Metalltaschenlampe an einer Kette und verfängt sich im Loch, ebenso der praktische Vierkantschlüssel. Auf der rechten Hüfte lastet eine kleine Ledertasche mit geladenen Akkus für die Kamera. In der rechten Hosentasche befindet sich neben den selbst designten Schildchen mit Maßstabsanzeige in Zentimeter und Inch (zur Größenbestimmung auf den Tatortfotos) auch noch ein sehr umfangreiches Schweizermesser mit integrierter Pinzette und Laserpointer. Der Gürtel selbst ist aus Aufzugsgummi.

Wenn man Mark Benecke mit seinem Gürtel, seinen alten schwarzen Jeans, seinem Ring im linken Ohr zufällig auf der Straße träfe, würde man ihn höchstwahrscheinlich für einen jungen Handwerker halten, nicht aber für einen von weltweit knapp zwei Dutzend Experten der Kriminalbiologie. Wir bitten ihn zu erzählen. „Also, ich werde meistens gerufen, wenn’s schon stark riecht. Jeder kennt den Geruch irgendwoher, wenn nicht, legt man fünf bis zehn Tage ein Stück Leber auf den Balkon … Eklig ist er eigentlich nicht, es ist eher so, dass es nervt. Und es haftet an, es zieht in die Klamotten, das heißt, wenn man nach Hause kommt vom Fundort … also erst mal in der Bahn sitzt man bald alleine, danach gehe ich sofort runter in den Keller, noch bevor ich hier hochgehe, und werfe alles komplett in die Waschmaschine … das zieht durch bis zur Unterwäsche. Deshalb ist es auch sinnlos, sich bei der Arbeit irgendwas auf die Nase zu setzen, das macht keiner. Im ‚Schweigen der Lämmer‘, diesem Film, wird ja gezeigt, dass sie sich mit Tigerbalsam schützen, aber das ist eben schlecht. Wenn man das nächste Mal einen Pfefferminztee aufbrüht oder einen Kaugummi kaut, ist die Assoziation Leiche da, denn der Geruchsnerv zieht ja sofort durch, der ist ja die basalste Verbindung zum Gehirn. Da darf man nichts mischen. Ich habe wirklich eine sehr gute Nase für Fäulnis bekommen mit der Zeit. Wenn ich zum Tatort fahre, eine Wohnung betrete, dann weiß ich schon vom Geruch her, wie die Leiche aussieht, in welchem Stadium sie ist, denn jedes Stadium riecht anders.“

Er reicht uns einige Farbfotos. Sie zeigen den stark aufgedunsenen, teils geöffneten, bläulich-grün-gelblich verfärbten Körper einer korpulenten, alten Frau, das Gesicht wirkt weitgehend zerstört, ist aber noch eines. Die Leistengegend und der Bauch sind besiedelt von großen Maden. „Ich fotografiere inzwischen alles ohne Blitz, die Maden verschwinden nämlich, wenn Licht kommt. Sie haben ihre Ein- und Austrittsstellen … das kann auch der Nabel sein am Anfang, aber das werden dann natürlich immer mehr Öffnungen, in denen sie verschwinden können, auch im Mund verstecken sie sich. Wenn man jetzt hier bei dieser Leiche zum Beispiel wartet, bis es ein bisschen wärmer und dunkler wird, dann könnte es sein, dass sich mit einem Mal ein richtiger Madenteppich auf der Leiche bewegt. Normalerweise sind sie zuerst im Gesichtsbereich. Die schwangeren Schmeißfliegen legen, wenn man angekleidet ist, ihre Eier eigentlich immer im Gesichtsbereich ab … Augen, Nase, Ohren … nur wenn die Hose runtergezogen ist oder gar nicht vorhanden, dann legen sie schon auch mal, ganz selten, im Genitalbereich. Also, die Ersten, die einen frei liegenden Leichnam für ihren Nachwuchs nutzen, sind die Schmeißfliegen, dazu gehören die metallisch goldgrünen Goldfliegen, die graue Fleischfliege und die bläulich schimmernde Schmeißfliege. Sie kommen oft schon kurze Zeit nach dem Eintritt des Todes, und ihre millimetergroßen Larven schlüpfen bei Wärme teils schon 15 Minuten später. Eine komplette Freiskelettierung durch Maden- und Insektenfraß kann unterschiedlich lange dauern. Es hängt absolut vom Wetter ab. Also, ich hab’s mit eigenen Augen gesehen in Amerika, wie das innerhalb von zwei Wochen vor sich ging. Es hat aber immer wieder geregnet zwischendurch, und es war heiß. Feuchtigkeit ist notwendig, damit das Gewebe weich genug ist für die feinen Mundwerkzeuge.“

Mark Beneckes Augen funkeln, seine kleinen weißen Zähne blitzen. „Von Carl von Linné – er hat ja 1751 die moderne Benennung von Pflanzen und Tieren eingeführt – stammt auch der Satz, dass drei Fliegen einen Pferdekadaver ebenso schnell zerstören können wie ein Löwe. Wenn aber die Leiche austrocknet, dann kommen Museumskäfer, Teppichkäfer … ganz spät … Schinkenkäfer. Bestimmte Insekten, meist Käfer, die können die Feinzersetzung einer Leiche noch dann geschmacklich unterscheiden, wenn sie mit all den technischen Methoden, die wir haben, schon gar nicht mehr messbar ist. Die verschiedenen Zersetzungsstadien ziehen verschiedene Insekten an. Die schwangeren Käsefliegen zum Beispiel fliegen hierzulande nach etwa drei Monaten das erste Mal eine Leiche an, weil es etwa so lange dauert, bis sich die Weichteile in einen breiigen Zustand verwandelt haben und die Leiche einen typischen käsigen Geruch ausströmt. Die Käsefliegenmaden wachsen in 11 bis 19 Tagen zu erwachsenen Tieren heran. Nehmen wir an, es werden im November, im Freien, die Überreste einer Leiche gefunden. Der Haarschopf ist noch intakt, unter den Haaren befinden sich Käfer und Fliegenpuppen, auf der Leiche zehntausende von etwa acht Millimeter großen länglichen, springenden Maden der Käsefliege – Piophila casei, nach Linné – und ebenso ein dichter Teppich von Käsefliegeneiern, dazu werden auch tote erwachsene Tiere gefunden. Aus diesen Informationen berechne ich dann die Liegezeit der Leiche folgendermaßen: 1. Besiedelung nach ca. 90 Tagen, plus 2 mal (d. h. 2 Generationen) 11–19 Tage Entwicklungszeit = 112 bis 128 Tage Liegezeit im Freien. Dieses Ergebnis ist für die Kriminalpolizei sehr hilfreich. Sie kann sich zum Beispiel bei den Ermittlungen auf solche Personen konzentrieren, die in diesem Zeitraum verschwunden sind.“

Mark Benecke reicht uns ein anderes Foto: „Das hier ist ein Fall, da haben sie – was früher fast immer passierte, heute nicht mehr – vergessen, einen Maßstab mit aufs Bild zu legen. Ich verschenke tausende von diesen Aufklebern. Die habe ich entworfen. Man benutzt die gern, denn sie sind selbstklebend. Das polizeieigene Krim/Fo-Band ist von der Rolle und hat den Nachteil, dass man, vor der Leiche stehend und die Hände voller Faulleichensekret, reinbeißen muss, um es abzureißen. Also, bei diesem Fall gab’s nur Bilder. Die Leiche war schon beerdigt, eine Exhumierung wäre zu teuer gewesen.“ Er deutet aufs Foto. „So lag sie da. Das ist ein Madenteppich und Blut, sehr viel Blut war ausgelaufen.“ Zu sehen ist im Profil das gepiercte Gesicht eines jüngeren Mannes. „Guckt mal das Gesicht, das ist Grünfäulnis. Und das ist eine Fäulnisblase, das Paradies, aus der Madenperspektive … Deshalb sage ich immer … das hat auch … das ist auch schön im höheren Sinne, weil das halt unabwendbar der Kreislauf des Lebens ist. Und es passt eben einfach alles genau zusammen. Einfach deswegen, weil es zusammengehört! Die ganze Fäulnis da, die kommt nicht über uns, die ist integraler Bestandteil der Wiederverwertung. Da ist überhaupt nichts Schlimmes dran … nicht?“ Alle blicken auf das Bild. „Hier lautete also die Frage: Wie groß waren die Maden? Ich kam dann auf die Idee, mir die Ringe zum Maßstab zu machen. Ich ging also zu einer Piercerin hier an der Ecke. Sie guckte sich das an und sagte, genau könne sie’s nicht sagen, der eine Ring sei aus Indien, der andere aus chirurgischem Stahl und keinesfalls größer als das oder kleiner als das. Die Aussage war unbrauchbar, die Sache nicht zu klären. Und das lag am vergessenen Maßband.“

Er zieht ein anderes Foto hervor. „Diese Geschichte zeigt, weshalb es sehr nützlich ist, wenn ich möglichst immer an den Tatort gehe, statt mir das Material kommen zu lassen. Hier seht ihr die Haare auf dem Kopf. Sie fallen aber im Verlauf der Fäulnis eigentlich immer runter. Die Maden sind derart gründlich, dass die Haare als Schopf runterfallen, mit der verwesten Kopfhaut zusammen. Hier aber nicht. Da war alles lagegerecht. Ein schöner langer Bart und längere Haare, alles an Ort und Stelle. Das Übrige war komplett freiskelettiert. Das konnten keine Maden gewesen sein. Es waren andere Tiere, und ich habe sie gefunden. Speckkäfer, so eine Art Museumskäfer, die können ganz trockenes ledriges Material fressen. Nun war die Frage, weshalb gab es keine Schmeißfliegen? Den Grund seht ihr hier, das ist ein Heizgerät. Das hatte er neben sich gestellt und ist dadurch sehr schnell ausgetrocknet. Irgendwann ist das Gerät dann überlastet gewesen nach zwei Monaten und ist durchgebrannt. Daher der schwarze Fleck. Der hat mir eigentlich den ganzen Zusammenhang erst klar gemacht.“ Er schiebt die Fotos zur Seite und sagt: „Ach ja, den Fall mit dem kleinen Dominik wollte ich euch noch erzählen. Bilder habe ich im Moment nicht zur Hand. Also, der kleine Junge, zwei Jahre alt, wurde im Juli 2000 tot in einer Wohnung gefunden, bei geschlossenen Fenstern. Sehr schnell wurde die Mutter gefunden, sie war 20 Jahre alt und eine drogenabhängige Straßenprostituierte. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das Kind zum letzten Mal gesehen hatte, wann sie die Wohnung verlassen hatte. Sie war völlig weggetreten, zeitlich und räumlich. Jetzt war das Problem, dass nicht nur sie angeklagt war, sondern auch die Sozialarbeiter. Die Frage war nun: Hätte das Kind gerettet werden können oder hätte es überhaupt nicht gerettet werden können, wie lange hat es gedauert, bis es nach dem Verschwinden der Mutter gestorben ist? Nun war es so, dass an dem Kind zwei verschiedene Sorten von Maden zu finden waren. Im Gesichtsbereich war nur eine einzige, mehrere waren im Mund, auffallend war, dass die Augen überhaupt nicht besiedelt wurden. Der Genitalbereich war viel stärker besiedelt als das Gesicht. Das kann aber gar nicht sein, normalerweise. Ich habe die Tiere also bestimmt, und es stellte sich heraus, es sind Tiere, die sich überhaupt nicht von Leichengewebe ernähren, sondern von Kot und Urin. Sie wurden vom Geruch angezogen und haben die Windel besiedelt. Das sind sozusagen Vernachlässigungsindikatoren. Die Windel wurde besiedelt, als das Kind noch lebte, die Tiere, die da gefunden wurden, waren viel älter als die Tiere im Gesichtsbereich. Man konnte jetzt ausrechnen, wie lange war die Windel besiedelt, wie lange war das Gesicht besiedelt, daraus ließ sich errechnen, wie lange es her sein musste, dass die Mutter die Tür hinter sich geschlossen hatte, wie lange mindestens!“

Ich habe das Material dann untersucht, also, es stellte sich dann heraus, das Kind ist nicht innerhalb von Stunden gestorben, sondern eher im Bereich von 7 bis 14 Tagen, das bedeutete juristisch, das Kind hätte theoretisch noch gerettet werden können durch die Sozialarbeiter. Nur, dazu sag ich natürlich nichts. Für mich darf keine Rolle spielen, ob jemand jetzt schuld ist oder nicht. Mir ist die Schuldfrage meistens sogar gleichgültig, ich arbeite nur an den Sachbeweisen, und diese wissenschaftliche Arbeit beleuchtet nur Ausschnitte, Fragmente der Wirklichkeit, die allerdings manchmal ganz grell!“

Mark bietet seinen Finger einer umherkreisenden Fliege an: „Sie haben keine Scheu, die sind hier in der Wohnung geboren … Ein schönes Beispiel für meine Arbeit, das auch mit Fliegen zu tun hat, will ich noch erzählen. Das war der erste Fall, so bin ich überhaupt dazu gekommen – ich hatte ja in Amerika eine Ausbildung gemacht. Also, eines Tages riefen die Kollegen von Nebraska an, sie brauchten vor Gericht hieb- und stichfeste Beweise für folgenden Fall: Man fand in einem geschlossenen Raum zwei erschossene Menschen. Hoch oben an der Decke gab es unerklärlicherweise Blutspuren, Spritzer, obwohl das Blut der Erschossenen so weit nicht hatte spritzen können und ein weiterer Toter aber auch nicht gefunden wurde. Unsere Nachforschungen haben dann erwiesen, dass Fliegen diese Blutspritzer verursacht hatten. Sie sind unten im Blut herumgegangen – aufgenommen haben sie wohl kaum was, sie mögen lieber Kekse und Brot, Kohlehydrate, nur die Maden wollen Protein – sie haben es nur verschleppt an die Decke und in der Nähe eines Abzugsschachtes, durch den sie kamen, blutspritzerähnlich verteilt. Wir haben Versuche gemacht, eine Fliegenzucht angelegt, Tapeten und rote Substanzen besorgt. Und aufgrund der typischen Muster, der Punkte und Ausziehungen haben wir dann eine mathematische Formel erstellt. So lässt sich eindeutig auseinander halten, das sind Blutspritzer, und das ist von Fliegen gesetzt worden. Der Fall war aufgeklärt. Kommt, gehn wir ein bisschen auf den Balkon, ins Warme.“

Der Balkon zieht sich über die Länge von drei Zimmern hin und liegt nach hinten hinaus mit Blick auf ein Holzlager und efeubewachsene Mauern. Wir fragen, wie denn alles so kam mit ihm: „Na, ich gehöre noch zur letzten Wollsockengeneration, die halt Bio studiert hat, damit die Vögel leben und die Insekten … das gibt’s ja heute nicht mehr. Meine Eltern – die sind keine 68er, eher 70er-Generation – sind zu Hause immer nackt rumgelaufen, kamen ins Fernsehzimmer und wollten mit uns über die Filme reden. Mein Vater sagte immer, pass auf, iss auch das Fette vom Fleisch, sonst werd ich echt böse, im Lager wären wir froh gewesen! Er war Flüchtlingskind aus Ostpreußen im Flüchtlingslager. Dann hat man gesagt: Vater!!! Und er sagte: Okay. Entschuldigung. Na ja, ich habe dann Molekularbiologie gemacht, weil mich aber wirbellose Tiere interessierten, habe ich hauptsächlich Zoologie gemacht, denn da kann man sich ja mit ihnen als Tiere beschäftigen statt nur auf molekularer Ebene. Ich habe auch mit Tintenfischen gearbeitet. Dann habe ich angefangen, Methoden zu transferieren – alle reden immer vom multidisziplinären Arbeiten, aber kaum einer macht’s – ich mach’s heute noch. Während des Studiums habe ich in der Rechtsmedizin gearbeitet, da genetische Fingerabdrücke gelernt, hab dann meine Diplomarbeit in Zoologie gemacht, und zwar mit den genetischen Fingerabdrücken aus der Rechtsmedizin an wirbellosen Tieren. Dann hab ich wieder zoologische Methoden in die Rechtsmedizin genommen, nämlich Insekten auf Leichen. Es war mehr oder weniger Zufall, nur weil ich neugierig bin und immer gefragt habe, was darf ich bei euch machen?“

Er lächelt und wirkt neugierig wie eh und je. „Manchmal stößt man auf Unverständnis, deshalb arbeite ich lieber mit jüngeren Leuten. Die Gerontokraten, die alten Herren, die Magnifizenzen und so was, die sind völlig unbedeutend mit ihrer wissenschaftlichen Arroganz, mit der sie sich panzern. Ich bin sehr dafür, die Dinge verständlich zu erklären als Experte, und dafür muss ich sie aber eben vereinfachen. Das ist verpönt. Aber ich will alles transparent machen, und ich will versuchen, nicht missbrauchbar zu sein. Das gehört ja zusammen. Ich weiß, was den Leuten in den 20er- und 30er-Jahren passiert ist, wir wissen, wo die Fehler liegen, wir können studieren, wie es kam, dass Leute von Systemen vereinnahmt worden sind, obwohl sie vielleicht wirklich nichts weiter gemacht haben als nur ganz kauzig ihre Kleinarbeit, ohne über den Tellerrand zu blicken. Man dachte, dieses kleine Feld, das ich bearbeite, das kann keine soziale Relevanz haben, oder man sagte, wenn ich’s nicht tu, dann tut’s ein anderer. Ich denke, der Satz muss heißen: Wenn’s keiner tut, dann tut’s keier. Und zu keiner gehöre auch ich.“

Eine junge Hummel nähert sich brummend seiner Brille. Zärtlich sagt er: „Du Kleine, du! Sie mögen mich, und ich mag sie auch.“ Auf die Frage, ob er denn nie Probleme gehabt habe mit den Leichen, sagt er: „Nein, ich hab das total, zu 100 Prozent, integriert in mein Leben, den Tod.“ Wir fragen ihn, ob nicht gerade ein fortgeschrittener Verwesungsgrad dazu verführe, ehemals individuelle Züge sich vorzustellen, ob nicht ein kaum noch zu erkennendes Gesicht und Genital anrührender sei als das eines eben Verstorbenen und der herabgefallene Haarschopf nicht auch an den eigenen erinnere. „Ich nehme es gar nicht so wahr, wirklich. Ich verstehe, dass ihr das fragt, aber es spielt bei mir keine Rolle. Außerdem hat mein Beruf ja fast nur mit Gewaltverbrechen zu tun, da muss man echt ’ne Panzerplatte dazwischentun, finde ich. Ihr müsst euch das so vorstellen, ich guck mir die Leiche genau wie ein Insekt an, und für ein Insekt gibt’s auch kein Gesicht, kein Genital, keine Haare. Wenn die Leiche hier ein Loch hat, beispielsweise“, er bohrt der neben ihm stehenden Freundin den Finger demonstrierend in die Hüfte, „dann guck ich mir dieses Loch zuallererst an. Und noch mal zum Gesicht, gerade das Gesicht ist oft schon längst nicht mehr erkennbar. Also, ich nähere mich der Leiche mit Insektenaugen und erkunde, was es überhaupt hier Interessantes gibt für mich, wo ist Licht, wo ist es warm, wo ist es feucht, mit der Erwartungshaltung einer Fliege, die gleich eine köstliche Eiablagestelle findet für ihre Brut.“

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