Familientragödie aus "Hassliebe": "Schrecklich schief gegangen"
Im Prozess um den so genannten Ehrenmord an Morsal O. fordert die Staatsanwaltschaft lebenslange Haft für den angeklagten Bruder. Die Verteidigung plädiert auf Totschlag.
Im Prozess gegen den wegen Mordes an seiner Schwester Morsal angeklagten Ahmad-Sobair O. hat die Staatsanwaltschaft gestern eine lebenslange Haftstrafe gefordert. Die Verteidigung plädierte dagegen vor dem Hamburger Landgericht für eine Strafe wegen Totschlags. Sie stützte sich dabei vor allem auf die Aussagen einer Gutachterin, die dem 26-Jährigen verminderte Steuerungsfähigkeit und eine narzisstische Persönlichkeitsstörung attestiert hatte. Die Staatsanwaltschaft hatte einen Befangenheitsantrag gegen die Psychiaterin gestellt, den das Gericht gestern jedoch ablehnte. Zu Beginn des Prozesses hatte die Verteidigung erfolgreich auf die Entlassung eines anderes Gutachters gedrungen, der den Angeklagten für schuldfähig erklärt hatte.
In der Berichterstattung über den Prozess war immer wieder von einem sogenannten Ehrenmord die Rede gewesen. "Ich mag diesen Begriff nicht", sagte Staatsanwalt Boris Bochnick zu Beginn seines Plädoyers. "Ehre und Mord sind wie Feuer und Wasser: Mord ist ein ehrloses Delikt." Bochnick betonte, dass der Angeklagte seine Schwester dazu habe zwingen wollen, nach seinen Vorstellungen zu leben - "Vorstellungen von einer Rolle, die weit jenseits unserer Verfassung liegt". Als sich die 16-Jährige dem verweigerte, habe Ahmad-Sobair O. seine Schwester "heimtückisch und aus niederen Motiven" getötet. Als er sie im Mai 2008 auf einen Parkplatz in Hamburg kommen ließ und dort mit 23 Messerstichen tötete, habe er vorsätzlich gehandelt. Zuvor hatten ihm Bekannte erzählt, seine Schwester prostituiere sich. Laut Polizeivernehmung - der Angeklagte schweigt vor Gericht - hat Ahmad-Sobair O. seine Schwester gefragt: "Gehst du auf den Strich?", worauf sie erwiderte: "Das geht dich einen Scheißdreck an." Daraufhin stieß er mit seinem Messer zu.
Dem vorangegangen waren jahrelange Auseinandersetzungen in der afghanischstämmischen Familie. Sowohl die Eltern als auch die Geschwister hatten Morsal O. wegen ihrer als zu westlich empfundenen Lebensweise misshandelt. Das Mädchen war wiederholt in Hilfseinrichtungen geflohen, hatte Anzeige gegen seine Familie erstattet - und dann doch immer wieder den Kontakt zu ihr gesucht.
Die Verteidigung wies die Vorstellung, es handle sich um einen sogenannten Ehrenmord, zurück. Dazu hätte es eines Plans und eines Auftrags der Familie bedurft. "Du hast uns alle getötet", habe jedoch die Mutter nach der Tat zu ihrem Sohn gesagt. In dem Telefonat, das die Polizei abhörte, antwortete Ahmad-Sobair O.: "Besser ruiniert als ehrlos". Doch der Angeklagte, so die Verteidigung, habe nicht geplant gehandelt, zudem habe er durch seine eingeschränkte Steuerungsfähigkeit die Wehrlosigkeit des Opfers gar nicht in Betracht gezogen.
Die beiden Verteidiger, Hartmut Jacobi und Thomas Bliewier, räumten ein, dass andere Gerichte Tötungen aus Gründen der Familienehre als niederen Beweggrund und somit Mordmerkmal gewertet hätten - dies sei aber vom Einzelfall abhängig, bei dem die jeweiligen kulturellen Besonderheiten berücksichtigt werden müssten. "Der Angeklagte wollte reden, und das ist in dieser Situation schrecklich schiefgegangen. Das ist der Schlüssel zur Tat: eine Hassliebe zwischen den Geschwistern", sagte Anwalt Bliewier.
In seinem Schlusswort fragte Ahmad-Sobair O. zuerst nach einer Besuchsregelung für seine Freundin. Dann sagte er: "Es tut mir leid, was passiert ist. Es war nicht irgendjemand - es war meine Schwester." Das Urteil soll am 13. Februar fallen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt