piwik no script img

Familienplanung in ChinaViele Kaiser, wenige Frauen

In China wird noch immer bestraft, wer mehr als ein Kind bekommt. Jedoch werden die strengen Regeln inzwischen des öfteren aufgeweicht.

Mit der Ein-Kind-Politik beschloss die Regierung ganz nebenbei auch das Verschwinden der Großfamilie: Szene aus Peking. Bild: dpa

Von meinem ersten Besuch bei meiner Verwandtschaft in China, das war in den Achtzigern, ist mir vor allem eines in Erinnerung geblieben: wie überfordert ich war. Ich hatte nicht nur einfach Tanten und Onkel, Cousinen und Cousins. Sie waren auch durchnummeriert.

So hieß meine älteste Tante die „große Tante“, die zweitälteste nannte ich die „zweite Tante“, die drittälteste die „dritte Tante“. Die jüngste war wiederum die „kleine Tante“. Und nicht nur das: Meine Großeltern, Tanten und Onkel mütterlicherseits hatten eine völlig andere Bezeichnung als die Verwandten meines Vaters.

Hinzu kamen die angeheirateten Tanten und Onkel, die väterlicherseits anders hießen als mütterlicherseits. Ich musste tunlichst darauf achten, dass ich sie auch ja korrekt ansprach. Bei sieben Tanten und angeheirateten Onkeln, 21 Vettern und Basen – allein auf der Seite meines Vaters – war das ein ganz schön schwieriges Unterfangen.

Die junge Generation der Volksrepublik hat dieses Problem nicht mehr. Eine Ayi, so die Bezeichnung für eine Tante mütterlicherseits, kennen viele nur noch als Reinigungskraft, die zweimal die Woche zum Putzen kommt. Brüder und Schwestern gibt es fast gar nicht mehr, und auch Cousinen und Cousins werden rar.

Das Verschwinden der Großfamilie

Bild: taz
Sonntaz

Diesen und viele andere spannende Texte lesen Sie in der sonntaz vom 7./8. Juli 2012. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und für Fans und Freunde: facebook.com/sonntaz.

Inzwischen wächst sogar eine Generation heran, die nicht einmal mehr Tanten und Onkel hat. Denn vor 33 Jahren beschloss die Kommunistische Partei in China, dass jedes Ehepaar nur noch ein Kind bekommen sollte. Sie beschloss damit, ganz nebenbei, auch das Verschwinden der Großfamilie, wie ich sie als kleiner Junge noch erlebt habe.

Aus Deutschland kenne ich die Debatten, mehr Kitaplätze zu schaffen, die Elternzeit ist eingeführt, Betreuungsgeld soll folgen – alles Maßnahmen, um junge Erwachsene dazu zu bringen, mehr Kinder in die Welt zu setzen. In China hingegen hält die Regierung weiterhin an einer Politik fest, die genau das Gegenteil zum Ziel hat: Die Bevölkerung soll schrumpfen. Auf den ersten Blick ist diese Politik sinnvoll. Ich sehe das, wenn ich nun Peking erlebe: Zu allen Tageszeiten sind die Straßen mit Menschen, vor allem aber mit Autos verstopft.

Selbst per U-Bahn und Bus komme ich nur mit großer Mühe an mein Ziel. 1,3 Milliarden Einwohner zählt die Volksrepublik derzeit. Hätte es die Einkindpolitik nicht gegeben, wäre die Zahl der Bevölkerung heute wahrscheinlich 400 Millionen höher. Fast 8.500 Millionen Tonnen CO2-Ausstoß verursachen die Chinesen jährlich. Und mit steigendem Wohlstand steigt dieser Wert immer schneller. Wer die nackten Zahlen betrachtet, der versteht die Einkindpolitik.

Tag der Weltbevölkerung

Der Termin: Am 11. Juli 1989 überschritt die Weltbevölkerung nach statistischen Berechnungen die 5-Milliarden-Marke. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen nahm dies als Anlass, einen Gedenktag einzuführen: den Weltbevölkerungstag. Er ist einer von rund 70 Gedenktagen der Vereinten Nationen.

Das Gesetz: Um die Überbevölkerung in China in den Griff zu bekommen, beschloss die Kommunistische Partei 1979 die Ein-Kind-Politik. Paare, die mehr als ein Kind bekommen, müssen seither mit hohen Geldstrafen rechnen. Bis heute kommt es vereinzelt vor, dass chinesische Behörden Zwangsabtreibungen anordnen.

***

Felix Lee, 37, ist in Wolfsburg aufgewachsen. Mit vier Jahren hat er das erste Mal seine Verwandtschaft in China besucht. Seit April lebt er als taz-Korrespondent in Peking.

Wären da nicht 300 Millionen Abtreibungen in den vergangenen 30 Jahren, viele davon erzwungen. Auf dem Land gehen Beamte zuweilen besonders grausam vor. Zuletzt bei einer 23-Jährigen. Sie war im siebten Monat schwanger. Weil sie sich weigerte, für das zweite Kind die fällige Strafgebühr zu zahlen, schleppten Polizisten sie auf Anweisung der Lokalregierung in ein Krankenhaus und injizierten ihr eine Flüssigkeit, die eine Abtreibung einleitete. Blogger hatten Fotos der entsetzten Frau – ihr toter Fötus lag neben ihr – übers Internet verbreitet. Immerhin werden die Verantwortlichen nun bestraft, der Chef der örtlichen Familienplanungskommission musste gehen.

Iss, iss, iss!

Je länger Chinas Führung diese Politik beibehält, desto deutlicher werden die gesellschaftlichen Nachteile. Nicht nur dass im ganzen Land kleine Kaiser herangezogen werden, gehätschelt von zwei Eltern- und vier Großelternteilen. Ich sehe diese kleinen Kaiser in den Shoppingmalls der Stadt. Ihre Eltern stopfen sie pausenlos mit Essen voll. „Chi, chi, chi!“, rufen sie. Iss, iss, iss!

Ein anderes Problem: China wird alt. Bereits in 20 Jahren werden in der Volksrepublik 300 Millionen Rentner leben. Das entspricht etwa der Einwohnerzahl der USA. Anders als Deutschland droht China jedoch zu altern, noch bevor es reich geworden ist.

China wird nicht nur älter – sondern auch männlicher. Wenn schon nur ein Kind, so denken viele Eltern, dann ein Junge. Mädchen lassen sie oft illegal abtreiben. Ein Institut in Peking hat errechnet, dass es 2020 einen Überschuss von 40 Millionen jungen Männern im heiratsfähigen Alter geben wird.

Es sei nachgewiesen, dass der Aggressionspegel in Gesellschaften mit hohem Männerüberschuss massiv steigt, sagen die Forscher. Schon jetzt finden in jeder großen Stadt wöchentliche Heiratsmärkte statt, auf denen vor allem reiche Junggesellen ihr Herzblatt zu finden hoffen. Wer kein Geld und keine eigene Wohnung hat, geht häufig leer aus.

Aufgeweichte Regeln

Inzwischen hat die Führung diese Probleme nicht nur erkannt, sondern auch zugegeben. Offiziell hält sie an der Einkindpolitik zwar noch fest, doch die Regeln werden aufgeweicht.

In Städten wie Peking und Schanghai dürfen etwa Eltern, die selbst Einzelkinder waren, auf Antrag inzwischen auch zwei Kinder bekommen. Und die Strafgelder werden zumindest nicht mehr erhöht. Waren 20.000 Yuan – das sind rund 2.500 Euro – für viele Chinesen vor einigen Jahren noch eine gigantische Summe, können sich viele Familien diese Ausgabe dank des gestiegenen Wohlstands inzwischen leisten. Die Familien werden wieder größer.

Von meinen ersten Besuchen in China ist mir nicht nur meine Verwirrung angesichts der vielen Onkel und Tanten in Erinnerung geblieben, sondern auch, dass ich stolz war auf meine große Familie. Vielleicht ist das ein Gefühl, das in Zukunft wieder mehr Kinder in China erleben werden. Das ist, so könnte man sagen, die schöne Seite der Überbevölkerung.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

5 Kommentare

 / 
  • HJ
    Hu Junzi

    Hanyu Pinyin ist für die Transkription der Aussprache unbrauchbar, wenn es um eine "fachfremde" Leserschaft geht. Die das lesen denken wohl eher an Tai Chi als an "tschi", wobei das i dann etwas in Richtung ö klingt. Der Autor könnte sich vielleicht ein bißchen mit dem Lessing-Othmer-System beschäftigen, naheliegend, war's doch ein Deutsch der für Deutsche das Mandarin in lateinischen Buchstaben fest zu schreiben versuchte.

    In dem Sinne auch lieber Peking als ein pseudokorrektes Beijing. (Es muss ja nicht ein jeder Leser zum klugscheißernden Sinologen gebildet werden)

    Ansonten denke ich, dass dieser Artikel vornehmlich dazu geeignet scheint die schon bestehenden Zerrbilder Chinas in der westlichen Öfflichkeit zu bestätigen.

    Ich bitte zubeachten, dass die viele Familien, vor allem die in der Provinz, ihre erstgeboren Töchter nicht anmelden und so lange weiter zeugen, bis sie einen Sohn haben. Dieser wird dann Angemeldet und dient als Stammhalter und Rentenversicherrungsträger. Im allgemeinen kann man dann die Töchter auch gefahrlos melden und zur Schule schicken. Die Zahl von 40Mil. Jungenüberschuß erhält also noch ein großes Minus einfach nicht in der Statistik enthaltender Mädchen.

    China muss sich auch um keine Rentenbeiträge kümmern, entweder man hat einen Sohn, der in der Familie bleibt und einen versorgt, oder aber die Töchter heiraten und man wird alt und einsam und hungrig, und irgendwann geht man nicht mehr auf's Feld und heizt auch den Kang nicht mehr an und stibt. Jungs in dieser Gesellschaftsordnung eine prima Sache;)

  • B
    Besserwessi

    Felix Lee, ein von mir hochgeschaetzter Reporter.

     

    "Inzwischen wächst sogar eine Generation heran, die nicht einmal mehr Tanten und Onkel hat."

     

    Leider wird hier aber ein Mythos weiterverbreitet.

    Gehen Sie aufs Land,dann werden Sie feststellen,

    dass es weiterhin ganz normal ist, 2-3 Kinder zu haben.

     

    Die wirkliche Zahl betraegt nicht 1,3 Miliarden, das sind alles Propagandaangaben, genau so wie die Angaben zum BSP Wachstum.

  • G
    G.Dirks

    Um "Familienplanung" im weiteren Sinne müsste schon lange eine große Debatte stattfinden. Die Überbevölkerung der Welt ist ein Thema, mit dem man nicht erst anfangen sollte sich auseinander zu setzen, wenn die Probleme schon zu immens sind. Das dieses Problem eines Tages auf uns zu kommt, ist kein Geheimnis.

    Da dieses Thema aber viele starke Tabus enthält, wird es in der Öffentlichkeit gemieden. Ich glaube nicht, dass die optimale Lösung schon gefunden ist, deshalb halte ich es für sehr wichtig, dass es in der Öffentlichkeit schon heute Beachtung findet.

     

    (Eine allgemeine Diskussion hierüber könnte präventiv faschistisches oder ähnliches Gedankengut ausschließen, da diese später durch dieses Thema Zulauf wegen vermeidlich "einfacheren" Antworten erhalten könnten.)

  • S
    Sebastian

    Die Welt geht unter weil immer mehr Menschen auf ihr leben und was ist die Lösung des Problems, laut Autor?

    Richtig mehr Kinder.

     

    9,2 mio Kinder unter 5 (QUNICEF) sterben pro Jahr 33% durch Unterernährung.

    Wie China 400 mio zusatzlich Bäuche voll bekommen sollte ist mir völlig schleierhaft.

    Siehe mal kurz nach Indien: 1,7 mio tote Kinder per anno 90% davon sterben an Hunger(laut Entwicklungsexperten,wer immer das sein mag) Quelle "Zeit"

    Das die Apologethen des Weltuntergangs durch Bevölkerungswachstum ihren falschen Weg nicht erkennen können ist traurig.

    Ich denke es nur darum geht mal was gegen China zu sagen über die schrecklichen Verbrechen die da so geschehen und überhaupt die chinesische Staatsmacht ist schon schrecklich.

     

    Warum wird hier nicht darüber nachgedacht warum es in Indien keine Förderung der "Einkindehe" gibt?

  • B
    Brandt

    Ich halte die Nostalgie für die Grossfamilie für verfehlt. Das China des Familienindividualismus gehört auf den Müllhaufen der Geschichte. Die chinesische Familie ist ein Hemmschuh für die politische und ökonomische Modernisierung,weil sie Nespotismus und Korruption hervorruft. China hat ein meritokratische Bildungsinstitutionen, deren Früchte am familiären Nespotismus verfaulen. Die chinesische Grossfamilie zieht eine Grenze zwischen Familienmitglieder (In-Group) und Fremden (Out-Groups: Wanderarbeiter, Obdachlose, Arbeiter, Migranten, ethnische Minderheiten) - menschliche Empathie und Vertrauen gehört vor allem der Familie. Im Zeitalter des globalen Finanzkapitalismus kann man gegen Grossfamilien-Strukturen nur mit einem autoritären Staat Umverteilungspolitik zugunsten der Modernisierungsverlierer machen. Die chinesischen Grosskonzerne brauchen für das Wirtschaftsleben Professionalismus und Universalismus. Die chinesische Familie fördert semi-professionelle Familienbetriebe und Clan-Bildung.

     

    Der einzige Bereich, wo die chinesische Grossfamilie einen Platz hat ist die chinesische Diaspora. Hier hat die chinesische Bevölkerung keine freundliche staatliche Interventionen zu erwarten. Hier gibt es keine entwickelten Kapitalmärkte für sie und die Arbeitsbeziehungen sind unterentwickelt.