Familiennachzug in Deutschland: Ein letzter Funke Hoffnung
Die syrische Familie Haj Ali leidet unter dem ausgesetzten Familiennachzug. Die Mutter ist mit vier Kindern in der Türkei, der Vater mit dreien in Northeim.
Es ist Dienstagnachmittag. Draußen regnet es. Die Jungs haben noch ihre Schlafanzüge mit Schneemännern und Autos darauf an. Seitdem ein Facharzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie aus dem niedersächsischen Northeim sie für schulunfähig erklärt hat, ist das ein typischer Tag. „Sie spielen nicht“, sagt Samir Faziki. Der junge Mann sitzt auf dem blauen Ledersofa und hebt hilflos die Hände.
Faziki ist ein Erziehungsbeistand vom Jugendamt der Stadt Northeim, nördlich von Göttingen. Hierher sind die Jungs mit ihrem Vater Maher Haj Ali aus dem syrischen Bürgerkrieg geflüchtet und leben jetzt in einer Altbauwohnung.
Faziki soll die Jungs dazu motivieren, dass sie rausgehen, lernen, Spaß haben, aber das klappt nicht. „Für sie wäre es wie ein Verrat, wenn sie jetzt spielen würden“, sagt Faziki.
Die Kinder protestieren. Sie kämpfen auf ihre Weise dagegen an, dass ihre Mutter und ihre vier anderen Geschwister nicht bei ihnen sein dürfen. Das verhindert der deutsche Staat.
Halbgarer politischer Kompromiss
In den Sondierungsverhandlungen, als noch gar nicht klar war, ob Union und SPD gemeinsam regieren würden, waren sich die Parteien schon in einer Sache einig: Sie setzten den Familiennachzug für Geflüchtete mit subsidiärem Schutzstatus noch bis August dieses Jahres aus. Danach dürfen 1.000 Menschen pro Monat nachgeholt werden. Wie diese ausgewählt werden, ist noch unklar.
Horst Seehofer (CSU), der damals noch nicht Innenminister war, hatte argumentiert, dass ohne die Obergrenze eine „massive Zuwanderung“ drohe und die „Integrationsfähigkeit Deutschlands total überfordert wäre“. Die SPD schluckte diese Kröte, und die Familie Haj Ali wurde Opfer eines halbgaren politischen Kompromisses.
Die Kinder haben ihre Mutter seit Oktober 2015 nicht mehr gesehen, nur mit ihr telefoniert. Sie sitzt mit vier Kindern in Izmir in der Türkei fest, die jüngste Tochter, Malven, ist erst auf der Flucht zur Welt gekommen. „Ich habe meine Schwester noch nie gesehen“, sagt Zubeir mit leiser Stimme und dann lauter: „Kann das sein?“
Seine langen Haare fallen ihm ins Gesicht. Er ist mit neun Jahren der Älteste der Brüder. „Ich kann nicht mehr“, sagt er in gutem Deutsch. „Immer heißt es, sie kommt noch ein Jahr später, noch ein Jahr später. Ich will meine Mama haben.“
In der Schule war die Situation zuletzt unerträglich für ihn. Er sah, wenn andere Kinder von ihren Müttern zur Schule gebracht wurden. „Ich bin dann traurig“, sagt Zubeir. „Ich will niemanden sehen, der mit seiner Mutter zusammen ist. Ich hab keine Lust auf das.“
Ein neues Zuhause
Die Situation eskalierte. „Alle drei Kinder zeigen provokatives Verhalten und äußern, dass sie so nicht mehr leben wollen“, heißt es in einem Bericht der Schulleiterin der Ganztagsschule, in die Zubier, Fermes und Murad gingen, der der taz vorliegt. Sie setzten sich gefährlichen Situationen aus, kletterten auf Fensterbretter oder Treppenbrüstungen, um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen. „Sie äußern, dass sie damit erreichen möchten, dass wir ihre Mutter nach Deutschland holen.“
Faziki erklärt das so: „Sie denken, die Schule könne etwas machen und will nur nicht.“ Er versuche den Kindern zu erklären, dass die Lehrer nichts unternehmen könnten, genau wie er selbst und auch die ehrenamtliche Unterstützerin der Familie nicht.
Dabei sah bis Mai 2017 noch alles ziemlich gut aus: Die Kinder gingen zur Schule, fanden Freunde und lernten Deutsch. Auch der Vater, Maher Haj Ali, besuchte einen Sprachkurs. Er machte aus der Wohnung ein Zuhause. In den Regalen im Wohnzimmer stehen Glasbilderrahmen mit den Fotos aller Kinder. Über dem Fernseher kleben schwarz-silberne Wandtattoos in Herzform.
Die Familie kam im November 2015 nach Deutschland. Erst im Januar 2017 entschied das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, dass die Haj Alis nicht den vollen, sondern nur den subsidiären Flüchtlingsstatus bekommen. Der Familiennachzug für Geflüchtete mit subsidiärem Schutz ist aber seit dem Asylpaket vom 17. März 2016 ausgesetzt.
Haj Ali klagte dagegen, dass ihm das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) nicht den vollen Flüchtlingsstatus zuerkannt hatte, sondern nur den subsidiären. Das Verwaltungsgericht Göttingen gab ihm im April 2017 recht. Anerkannte Flüchtlinge haben ein Recht auf Familiennachzug.
Ruhelos und depressiv
„Da war hier Halligalli“, sagt Kerstin Munzinger. Die ehrenamtliche Helferin unterstützt die Familie schon seit zwei Jahren. „Wir haben gefeiert“, erinnert sie sich. Da dachten sie noch, die vierwöchige Widerspruchsfrist gegen das Urteil wäre reine Formsache und die Familie bald wieder vereint. Doch drei Tage vor Ablauf legte das Bamf Widerspruch ein – und bekam vom Oberverwaltungsgericht recht. „Seitdem ist die Stimmung dramatisch gekippt“, sagt Munzinger, eine 55-jährige Northeimerin, die als Gartenbauingenieurin arbeitet. „Ab diesem Zeitpunkt ging es für alle so richtig den Bach runter.“
Maher Haj Ali vergaß Termine und wurde immer ruheloser, am Ende depressiv. Die Kinder bekamen regelmäßig heftige Albträume, ständig taten ihnen der Kopf weh. „Sie sind schon mehrfach in der Schule eingeschlafen“, heißt es im Bericht der Schulleiterin.
Wenig später erklärt ein Arzt die Kinder für schulunfähig. „Der Vater als auch die Kinder brechen unter der Last der Sorge um die Mutter mit ihren Kindern zunehmend zusammen“, schreibt der Psychiater. Seither kommt eine Lehrerin für ein paar Stunden am Tag, um mit den Kindern Deutsch und Mathe zu üben, aber die Probleme sind dieselben wie in der Schule.
Maher Haj Ali, ein sportlicher Typ mit ordentlich frisierten Haaren und silbernen Ringen an den Fingern, schickt die Kinder aus dem Raum und öffnet ein Fenster, bevor er sich eine Zigarette ansteckt. Er sieht erschöpft aus. Zwischen seinen Augenbrauen hat sich eine tiefe Falte in die Haut gegraben. Ein Arzt stellte eine schwere Depression bei ihm fest. Jetzt nimmt er Antidepressiva. „Es gibt keine guten Tage, nur weniger schlimme“, sagt Haj Ali auf Arabisch. Faziki übersetzt für ihn.
Die Kinder vermissen nicht nur ihre Mutter, auch ihre Flucht allein hätte ausgereicht, um einen Menschen zu traumatisieren. In der syrischen Stadt Amuda hatte Haj Ali als Maler und Taxifahrer gearbeitet. Doch durch den Bürgerkrieg wurde der Ort abgeschnitten. „Erst kamen keine Lebensmittel mehr rein, dann gab es auch kein Benzin mehr.“
„Mit einem Bein im Boot, mit dem anderen im Grab“
Er floh in den Irak, holte auch seine Familie in das Zeltlager im kurdischen Autonomiegebiet im Regierungsbezirk Dahuk nach. Von Deutschland hat Haj Ali schon lange geträumt. „Ich bin mit dem Wissen aufgewachsen, dass Deutschland den Kurden Asyl gibt“, sagt er. Auch seine Mutter lebte da schon in Northeim. Das Ziel war also klar, aber das Geld fehlte. Denn um vom Irak über die türkische Grenze zu kommen, mussten sie Schlepper bezahlen. Die Familie trennte sich.
Haj Ali machte sich mit Fermes und Murad auf den Weg über die Berge. Einen Teil der Strecke mussten sie laufen. „Da war eine Schlucht und darüber nur ein Brett“, sagt der Familienvater. „Da mussten wir rüber.“ Die Route führte über Schleichwege weiter. Sie schafften es. Ein Freund brachte Zubeir später nach.
In der Türkei bezahlten die vier den nächsten Schlepper für die Überfahrt nach Griechenland. Das Schlauchboot war überfüllt, der Motor zu klein und das Wetter schlecht. Man braucht keinen Dolmetscher, um Haj Alis Gesten zu verstehen: Mit der Hand zeigt er, wie sich die Wellen aufgebaut haben und dann das Boot abrupt heruntergestürzt ist.
„Wir hatten Angst, dass wir umkippen“, sagt er und zieht den sechsjährigen Murad zu sich heran. Er legt den Arm um dessen Oberkörper. „So habe ich ihn festgehalten. Die ganze Zeit.“ Die Kinder zitterten vor Kälte, weil das Wasser im Boot bis zu den Knien stand. Alle schöpften mit ihren Turnschuhen das Wasser heraus. Da ging auch noch der Motor aus. „Wir standen mit einem Bein im Boot und mit dem anderen im Grab“, sagt Haj Ali.
Sie trieben ab, zurück zur türkischen Küste, als endlich jemand den Motor wieder zum Laufen bekam. Von Griechenland ging es in Bussen über die Balkanroute bis nach Österreich. Da folgte die größte Katastrophe. Haj Ali und die Kinder verloren sich in der Menschenmenge vor den Bussen Richtung Deutschland aus den Augen. Der Zufall rettete sie: Ein Fremder, von dessen Telefon Haj Ali seine Mutter in Northeim angerufen hatte, erkannte die Kinder. Er kontaktierte die Großmutter und brachte die Jungen zu ihr, bevor er weiterreiste. Erst Tage später konnten sie sich dort wieder in die Arme schließen.
In Deutschland lieh sich Haj Ali überall Geld, damit seine Frau mit den Kindern in die Türkei reisen konnte. Sie müssten da jetzt mit sehr wenig Geld überleben, sagt die Helferin Kerstin Munzinger und redet sich dann über das deutsche Asylsystem in Rage.
Die Zustimmung fehlt noch
„Ich hätte das als Deutsche nicht für möglich gehalten.“ Sie meint, dass sich an der Situation nichts ändere, obwohl es den Kindern offensichtlich schlecht gehe. Die Helferin schreibt deshalb an Bundestagsabgeordnete und hält den Kontakt zu den Behörden sowie der Anwältin der Familie. „Aber diese dramatische Situation fällt hier komplett durchs Raster.“ Munzinger reibt sich auf, investiert einen Großteil ihrer Freizeit. Aufgeben will sie nicht – auch wenn sie sieht, dass Haj Ali den Mut verloren hat.
Die 55-Jährige hat noch eine Hoffnung: Paragraf 22 des Aufenthaltsgesetzes. Der besagt, dass Ausländern aus dringenden humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann. Diese dringenden Gründe müssen allerdings bei der Mutter und ihren Kindern in der Türkei vorliegen – dass die Kinder hier ihre Mutter vermissen, zählt nicht. Deshalb fieberten alle auf einen Termin der 32-jährigen Mutter im Generalkonsulat in Izmir hin.
Ein paar Tage später kam tatsächlich eine Mail vom Auswärtigen Amt: Das Generalkonsulat Izmir sei gebeten worden, das Visumverfahren für die Frau und ihre Kinder durchzuführen, heißt es darin. Nun fehle nur noch die Zustimmung der zuständigen Ausländerbehörde.
„Wir trauen uns noch nicht, uns zu freuen“, sagt Munzinger am Telefon. „Wir wissen ja noch nicht, was wieder dazwischenkommen kann.“ Trotzdem schleicht sich die Hoffnung ein. Dieses Mal könnte es klappen.
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