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Fallibilisten auf dem LandDie Möglichkeit, unrecht zu haben

Rechthaberei macht keinen Spaß. Menschen, die ihre Fehlbarkeit erkannt haben, sind einfach die sehr viel angenehmere Gesellschaft. Oder?

Staunen statt Polemik: Was denken sie auf hohen Bergwiesen über Leihmutterschaft oder Sterbehilfe? Foto: Angelika Warmuth/dpa

I m Herbst half ich eine Woche als Freiwillige bei einem Südtiroler Bergbauern. Der Bauer hieß Karl und bewirtschaftete den Hof allein, seit sein Bruder plötzlich gestorben war. Der Hof ist so baufällig, dass von außen nicht klar war, welcher Teil bewohnt war und welcher nicht, aber an den Fenstern hingen rote Geranien. Karl ging mühsam wegen seiner kaputten Knie und war von großer Freundlichkeit gegenüber uns Städtern, aber auch gegenüber den Kälbern, die er spät am Abend im Stall laufen ließ. Sie sprangen dann in Bocksprüngen durch die Gasse und Karl versuchte, das eine Kalb in Richtung seiner Mutter zu schieben, die angebunden an einer Raufe stand. Die Kuh rief dringlich nach dem Kalb, aber ihr Kind hatte kein Interesse an ihr, sondern hüpfte dem anderen Kalb hinterher.

Karl erzählte gern, vom Wetter, das keinen Regeln mehr folgt, von seinen Brüdern, von den Wölfen in der Umgebung und dem Streit um sie. Er sagte, dass es sonderbar sei, dass die Tierschützer nie zu bedenken schienen, dass es für die Schafe ein besonders schmerzhafter Tod sei, von Wölfen gerissen zu werden. Er sagte das ohne Polemik, eher überrascht von dieser Leerstelle bei Leuten, die so klare Meinungen vertraten.

Karl sagte nicht, was er selbst für richtig hielt im Umgang mit den Wölfen, und während ich durch den Schlamm zum Misthaufen ging, dachte ich darüber nach, dass ich gern seine Meinung über alles möglich hören würde, über Zuwanderung, Sterbehilfe und Leihmutterschaft.

Vielleicht, weil Karls Meinungen weniger dem Druck eines gewissen Milieus zu folgen schienen, vielleicht, weil sie ohne den Geruch von Dogma und moralischer Überlegenheit daherkamen. Vielleicht, weil Karl in einer Arbeitspause sein Mitgefühl für die Leute geäußert hatte, die vor den Waldbränden in Griechenland evakuiert worden waren. Ich glaube nicht, dass er selbst je Urlaub gemacht hat.

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„Möglicherweise neigen Sie zu Idealisierungen, Frau Gräff“, hörte ich da jemanden sagen. Ich musste laut gedacht haben. Ich schaute auf und sah den Ethikrat, der an drei Rechen gelehnt neben dem Misthaufen stand. Der Ethik­rat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Hinweise in Fragen praktischer Ethik geben. Ich schätze den Ethikrat, aber ich hatte das Stadtleben hinter mir gelassen und vielleicht, um ehrlich zu sein, auch den Ethikrat, der mich vor allem auf meine Unzulänglichkeiten hinweist.

„Mag ja sein“, sagte ich zum Rat, „aber können Sie mir sagen, warum mir das Gespräch mit Karl lohnender scheint als das mit meinesgleichen, jenseits aller Romantisierung und der Tatsache, dass ich dem Südtirolerisch nicht immer ganz folgen kann?“ „Nun“, sagte der Ratsvorsitzende und lehnte, wie mir schien, mit gönnerhafter Miene, den Rechen gegen die Stallwand. „Sie schreiben Karl das Konzept der Fallibilität zu.“ „Fallibilität“, wiederholte ich, „können Sie das vielleicht auch für Laien erklären?“ „Fallibilität meint natürlich, die Bereitschaft, die eigene Haltung für fehlbar zu halten, einen frühen Vertreter haben wir da in Arkesilaos von Pitane“, sagte der Vorsitzende.

„Warum ist das Konzept nicht verbreiteter?“, fragte ich. „Ich meine, wieso sollte man überhaupt annehmen, die eigene Meinung sei unfehlbar?“

Aber da näherte sich Karl mit einer Mistschubkarre, und der Rat verlor alles Interesse an mir. „Herr Karl“, rief der Vorsitzende, „auch wir wollen unsere Unterstützung anbieten.“ Er wies auf mich: „Sicher ist Frau Gräffs Hilfe allein nicht ausreichend.“ „Sind Sie eigentlich Fallibilisten“, schrie ich, aber niemand hörte mir zu.

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Friederike Gräff
Redakteurin taz nord