Fahndung nach Bombenlegern: Terroristen-Jagd durch Boston
Bei Suche nach Bombenlegern von Boston wird ein Mann getötet, ein weiterer ist auf der Flucht. Verdächtige stammen aus Süd-Russland und wuchsen in den USA auf.
WASHINGTON taz | Eine Millionenstadt im Schutzraum. Nach nächtlichen Schießereien und Verfolgungsjagden mit mehreren Toten in Boston haben die Behörden eine Ausgangssperre verhängt. Die Schulen und Universitäten sind geschlossen, Taxis und die U-Bahn haben den Betrieb eingestellt.
Nur noch Busse mit der Aufschrift „State Police“ fahren durch die menschenleeren Straßen. „Bleiben Sie zuhause“, sagen die Behörden, „öffnen Sie Ihre Türen nur für die Polizei.“ Ganze Blocks werden evakuiert. Auch die journalistische Arbeit leidet unter der Terroristenjagd. Um kurz vor 9 Uhr fordert die Polizei die Medien zum „Blackout“ auf, um die Polizisten nicht bei der Arbeit zu behindern.
„Tot“ steht auf dem Foto des 26-jährigen Tamerlan Tsarnaev, das am Freitagmorgen nonstop über die Fernsehbildschirme flimmert. „Wanted“ steht auf dem Foto seines 19-jährigen Bruders Dzhokhar. „Er ist gefährlich“, warnen die Journalisten, „wer etwas über seinen Aufenthaltsort weiß, sollte sofort 911 anrufen.“ Ein Polizist in Boston ist in der Nacht erschossen worden.
Die beiden Brüder Tsarnaev sollen am Montag die Bomben beim Bostoner Marathon gelegt haben. Drei Menschen sind bei der Explosion ums Leben gekommen, mehr als 140 wurden zum Teil schwer verletzt. Der tote Tsarnaev ist der Mann mit der schwarzen Kappe, der in der Nähe des Tatorts auf einem Überwachungsvideo zu sehen ist. Sein Bruder trug die weiße Kappe.
Überfall auf einen Lebensmittelladen
Die Jagd in Boston beginnt am Donnerstagabend gegen 22.30 Uhr mit einem Überfall auf einen Lebensmittelladen. Anschließend wird ein Mercedes-Jeep entführt. Der Fahrer entkommt. Angeblich haben ihm seine Entführer gesagt, sie seien die „Marathon-Bombenleger“. Die Polizei nimmt die Verfolgung auf. Angeblich werfen die Brüder Sprengsätze aus ihrem Wagen.
Gegen 1.30 Uhr nachts kommt es zu einer Schießerei im Bostoner Stadtteil Watertown. Wenig später stirbt der von zahlreichen Kugeln getroffene ältere Bruder in einem Krankenhaus. Der Jüngere soll zuvor bei der Flucht vor der Polizei mit einem gestohlenen Auto über den Körper des noch lebenden Tamerlan gefahren sein. Der trug angeblich Sprengstoff am Körper.
In manchen Meldungen aus der Nacht ist auch von einem „dritten Mann“ die Rede. Die Polizei soll ihn am Ort der Schießerei festgenommen und ihn – wegen des Verdachts auf Selbstmordattentäter – nackt abtransportiert haben. Später am Vormittag nimmt die Polizei weitere Personen in Boston in „Gewahrsam“.
Die zunächst nur bruchstückhaften und widersprüchlichen Informationen aus der Stadt im Schutzraum zeichnen ein unerwartetes Bild von den mutmaßlichen Bombenlegern von Boston. In den vorangegangenen Tagen hatten Experten in den USA über zwei alternative Varianten spekuliert: internationaler oder hausgemachter Terrorismus. Doch die Brüder Tsarnaev sind, falls sie denn tatsächlich die Bomben gelegt haben, weder das eine noch das andere. Sie sind in den USA aufgewachsen und gingen in US-amerikanische Schulen, Colleges und Sportclubs. Der ältere Bruder boxte.
Er wollte Ingenieur werden
Im Internet hat er ein Foto seiner aus einer portugiesisch-italienischen Familie stammenden Freundin veröffentlicht. Laut „Jihadwatch“ hat er nicht geraucht und nicht getrunken. Er wollte Ingenieur werden. Sein Führerschein ist – natürlich – made in USA. Über die Motive der beiden mutmaßlichen Bombenleger ist nichts bekannt, auch nichts darüber, ob sie gar Teil eines größeren Netzwerks waren und ob dieses international organisiert war.
Hingegen sieht es so aus, als hätten die beiden Brüder keine Flucht geplant. Offenbar hatten sie nicht einmal einen Wagen. Der Überfall auf das Lebensmittelgeschäft vom Donnerstagabend fand weniger als einen Kilometer vom Ort der Bombenexplosionen am Montag statt.
Die Familie Tsarnaev ist vor mehr als einem Jahrzehnt aus Kasachstan in die USA umgesiedelt. Zahlreiche Familienmitglieder leben in Massachusetts. Nach widersprüchlichen Informationen soll der ältere der beiden Brüder im Jahr 2002 in die USA eingereist sein.
Der jüngere Dzhokhar kam ein Jahr später. Aus Moskau verlautet, dass er zuvor sein erstes Schuljahr im Jahr 2001/2002 noch in der Schule Nummer eins in der dagestanischen Hauptstadt Machatschkala absolviert hatte. Ein ebenfalls in den USA lebender Onkel der beiden jungen Männer sagt dem Fernsehsender CNN, dass die Familie aus Kirgistan stamme.
Menschenleere Straßen
Mit starkem russischen Akzent erklärt Ruslan Tsarni, dass seine beide Neffen es „nicht verdienen, auf dieser Erde zu leben“. Am Freitagmittag sagen Sprecher der muslimischen Gemeinde in den USA, dass die mutmaßlichen Bombenleger „anscheinend muslimisch“ sind.
Die von der Polizei und dem FBI weiträumig ferngehaltenen US-Medien stehen in Boston auf menschenleeren Straßen. Sie konzentrieren sich auf Spekulationen sowie die Wiedergabe von Augenzeugenberichten von Anwohnern, die ihre Nacht im Keller verbracht haben und von den Schüssen direkt nebenan erschüttert sind. In atemlosen Stakkato sagt eine Reporterin des Senders MSNBC über die beiden jungen Männer: „Sie haben es geschafft. Sie haben eine der schönsten Städte der Welt als Geisel genommen.“
Parallel zu der polizeilichen Fahndung läuft seit den Bombenexplosionen vom Montag auch eine journalistische Jagd. Dabei geht es um den größten Scoop: Welcher Sender hat als erster ein Foto des oder der Bombenleger? Am späten Freitagvormittag, als Dzhokhar Tsarnaev noch auf der Flucht ist, weitet sich die journalistische Fahndung auf die US-Hauptstadt aus.
Kameraleute filmen ein Haus in der nördlichen Vorstadt von Washington aus der Luft. Dort lebt eine Familie mit kleinen Kindern – sie haben das Pech, Verwandte der verdächtigen Brüder Tsarnaev zu sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin