Expertin über Leben mit Beeinträchtigung: „Es ist ein langer Weg“
In Niedersachsen hat eine Frau ihr Kind getötet, mutmaßlich, weil es behindert war. Für Eva Brischke-Bau von der Lebenshilfe ein tragischer Einzelfall.
taz: Leben viele der Familien mit Kindern mit Behinderung derzeit an oder auch jenseits ihrer Belastungsgrenze, Frau Brischke-Bau?
Eva Brischke-Bau: Nein, das glaube ich nicht. Es ist eine schwierige Formulierung, die Sie nutzen. Früher hatte man als Lebenshilfe einen familienentlastenden Dienst, der heißt jetzt familienunterstützender Dienst. Man spricht nicht mehr von Belastung, nur weil man ein Kind mit Beeinträchtigung hat. Durch das Bundesteilhabegesetz ist die Teilhabe in den Fokus gekommen, nicht mehr so sehr die Belastung der Eltern, sondern der Mensch mit Beeinträchtigung und seine oder ihre Möglichkeiten, am Leben in der Gemeinschaft teilzunehmen. Dafür wird aus meiner Sicht schon sehr viel getan. Es gibt eine Vielzahl von Angeboten, die Eltern für ihre Kinder wahrnehmen können.
In Hamburg haben sich kürzlich Eltern an die Öffentlichkeit gewandt, weil sie sagen, diese Hilfe fände in der Praxis nicht statt, weil schlicht die Leute dafür fehlen, zum Beispiel bei der Schulbegleitung.
44, ist Geschäftsführerin der Lebenshilfe Grafschaft Diepholz.
Ich glaube, dass das wohnortspezifisch ist. Wir haben hier im Landkreis eine Menge Schulassistenten und finden in der Regel genau für dieses Aufgabengebiet gut Mitarbeitende.
Ist das ein Stadt-Land-Gefälle?
Bevor ich hier angefangen habe, war ich für die Stadt Oldenburg, den Landkreis Oldenburg und den Landkreis Wesermarsch tätig, also für ein städtisches Umfeld und für zwei ziemlich große ländliche Landkreise, und ich würde schon sagen, dass es einen Unterschied macht, wo man lebt. Ich weiß, dass es Familien gab, die extra aus Süddeutschland nach Oldenburg gezogen sind, weil sie sich dort eine bessere, inklusive Beschulung für ihr Kind versprochen haben.
Woran liegt es, dass das Angebot regional so unterschiedlich ist?
Es ist ein Stück Stadt-Land-Gefälle und auch ein Stück die Frage, wie früh sich eine Kommune aufmacht auf den Weg zur Inklusion.
Ein Anlass, mit Ihnen zu sprechen, war die Tötung eines zweijährigen Kindes durch die Mutter, die ihm nach bisherigem Ermittlungsstand eben ein Leben mit Behinderung ersparen wollte. Ist das etwas, was Ihre Einrichtung beschäftigt?
Dieser Fall ist für uns auf jeden Fall ein Einzelfall. Es passt nicht zu dem, was wir tagtäglich mit den Familien hier in der Beratung erleben. Aber wir wissen nichts über die familiäre Situation, nichts über die Art der Behinderung des Kindes. Wir wissen auch nicht, wie es der Mutter ging. Wir wissen nichts zu den Beweggründen und dem vorhandenen Netzwerk.
Laut dem gerade veröffentlichten Gleichstellungsindex der EU leiden Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen am häufigsten unter Diskriminierung. Hat diese Gruppe immer noch keine ausreichend laute Lobby?
Die Arbeit nach außen und die Arbeit der Verbände kann sicherlich noch weiter vorangetrieben werden. Es ist noch ein langer Weg zu einer inklusiven Gesellschaft, damit es wirklich normal wird, dass wir tagtäglich unterschiedlichsten Menschen begegnen, und zwar in jeglicher Alltagssituation.
Wenn Sie sich eine konkrete Verbesserung wünschen könnten, was wäre das?
Mit Sicherheit fehlt es an der Möglichkeit, für Eingliederungshilfe und Teilhabe das Geld auszugeben, das gebraucht wird. Wenn wir eine inklusive Gesellschaft haben wollen mit inklusiver Beschulung, muss man auch gucken, wie Inklusion am Nachmittag weitergehen kann. Sodass das Kind und der Jugendliche mit der Assistentin auch nachmittags noch an Sportangeboten teilnehmen, die für dieses Alter einfach normal sind. Es muss normal werden, dass ein 16-jähriges Mädchen mit einer Assistentin zum Shoppen gehen oder auf ein Konzert fahren kann.
Sind das alle Wünsche?
Wir haben neben der Eingliederungshilfe noch den Bereich der Pflege, und da gibt es zu wenig Angebote für Kurzzeitpflege. Wenn man etwa ein Kind hat, das körperlich ganz stark beeinträchtigt ist, kann ich das gut tragen, solange es klein ist. Wenn es acht, zehn Jahre alt ist, ist die Pflege deutlich anstrengender. Ich finde, dass solche Eltern auch einmal für eine Woche alleine in einen Urlaub fahren können müssen, um wieder zu Kräften zu kommen. Dann brauchen sie aber jemanden, der sich um das Kind kümmert und die Angebote – übrigens auch die im Erwachsenenbereich – sind sehr eng.
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