Experte über Social Media und Krieg: „Können unseren Augen nicht trauen“
Auf Handys stehen News neben Urlaubsbildern und Selfies neben Propaganda. Wissenschaftler Andrew Hoskins über den Einfluss sozialer Medien auf Kriege.
taz: Memes, Katzenbilder, Urlaubsfotos von Freund*innen – und dazwischen Videos und Fotos vom Krieg. Wie hat Social Media unsere Wahrnehmung verändert, Herr Hoskins?
Andrew Hoskins: Social Media hat die etablierte Ordnung der Produktion, Verbreitung und Rezeption von Nachrichten aufgelöst und sie mit dem ständigen digitalen Austausch von Meinungen und Erfahrungen verwoben.
Hoskins ist Professor für globale Sicherheit an der Universität Glasgow. Er schreibt über die Beziehung von Medien, Krieg und Erinnerung. 2022 veröffentlichte er mit Matthew Ford das Buch „Radical War: Data, Attention and Control in the Twenty-First Century“.
Nicht nur die Trennung von Privatem und dem Weltgeschehen ist neu. Auch die schier unendliche Menge an Nachrichten.
In der Rundfunk-Ära bis zum Ende des 20. Jahrhunderts hatten Nachrichtenagenturen und Zeitungen ein Monopol auf die Darstellung der Welt. Als ich klein war, hatten wir drei Fernsehkanäle, Radio und Zeitungen. Die Möglichkeit, mich zu informieren, war begrenzter.
Dann kamen Soziale Medien und die etablierte Ordnung war gebrochen. Wozu führte das?
Wir leben dadurch in zersplitterten Realitäten. Ich kann eine Version eines Krieges sehen, während jemand, der im selben Raum sitzt, eine andere Version desselben Konflikts gezeigt bekommt. Es entstehen algorithmisch aufgeladene Echokammern, in denen einem mehr von dem präsentiert wird, was man geliked oder geteilt hat.
Sind wir heute nicht trotzdem besser informiert?
Uns steht eine Fülle von Informationen mit nur einen Klick oder einen Swipe zur Verfügung. Aber sie sind nicht für jeden im selben Maße zugänglich. Nicht nur digitale Überlastung und Ablenkung hindern uns daran, uns zu informieren. Es wird auch schwieriger, die Herkunft und den Wahrheitsgehalt von Nachrichten festzustellen.
Oft könnten wir aber über seriöse Quellen im Internet schnell herausfinden, ob etwas wahr ist.
Ja, die Informationen sind verfügbar, aber nicht für alle gut zugänglich. Millionen von Nachrichten und Videos wurden von Bürgern, Soldaten und Journalisten seit Beginn des Ukraine-Kriegs aufgenommen. Obwohl der russische Krieg gegen die Ukraine im Jahr 2022 der am besten dokumentierte Krieg der Geschichte ist, nimmt unsere Aufmerksamkeit ab, weil wir ununterbrochen mit neuen Konflikten kontrontiert werden.
Worin besteht hier die Herausforderung, insbesondere im Zeitalter der sozialen Medien?
Vor ein paar Jahren war das Bild, das die Mainstream-Nachrichten und die sozialen Medien von der Welt zeichneten, ziemlich neutral. Schlimme menschliche Brutalität wurde durch Regulierung und Zensur an den Rand gedrängt. Heute dringt der Horror häufiger in das öffentliche Bewusstsein ein.
Welche Plattformen spielen dabei eine besondere Rolle?
Telegram ist ein Game Changer. Der Messaging-Dienst ist einzigartig. Dort strömen grafische und brutale Bilder vom Schlachtfeld mit begrenzter Moderation ein. Es geht nicht vorrangig um Likes und automatische Freigaben. Außerdem werden die Kanäle genutzt, um Spenden für den Krieg zu sammeln. Nicht Algorithmen sind hier an der Macht, sondern die Nutzer. Telegram könnte eine Rückkehr zu den „offenen“ Werten des Web 1.0 sein, doch stattdessen werden wir mit den Abgründen der Menschheit konfrontiert. Es ist die perfekte Waffe in der psychologischen Kriegsführung.
Wie hat die Hamas Telegram genutzt, um ihren Angriff auf Israel zu inszenieren?
Die Hamas filmte die Massaker in Israel am 7. Oktober. Sie luden die Inhalte auf Telegram hoch. Diese verbreiteten sich dann auf X (a.d.R.: ehemals Twitter), Instagram und anderen Plattformen. Gewaltvideos finden ihren Weg über das schwächste Glied in die globale Medienlandschaft. Sobald Inhalte auf einer Plattform mit genügend Nutzern eingedrungen sind, verbreiten sie sich weiter. In der heutigen Kriegsökonomie ist dieses schwächste Glied Telegram.
Auf Plattformen wie Facebook oder Tiktok können Moderations-Teams solche Inhalte entfernen. Bei Telegram bleiben sie stehen.
Die Plattformen wenden unterschiedliche Strategien bei der Moderation an, auch abhängig davon, aus welchem Land heraus sie agieren. Doch keine Plattform hat eine unfehlbare Methode, um das Teilen von Desinformation und Extremismus zu verhindern. Auf Telegram moderieren vor allem die Betreiber der Kanäle, indem sie Mitglieder aus ihrem Kanal entfernen, die unerwünschte Inhalte posten.
Welche Rolle spielt „Compassion Fatigue“ – fehlendes Mitgefühl, das aus emotionaler Abstumpfung durch Überforderung resultiert – bei den Konsumenten von Medieninhalten?
Die Theorie der „Compassion Fatigue“ hat ein Problem: Sie geht davon aus, dass Menschen, die brutale Fotos und Nachrichten von Kriegen sehen, sich überhaupt für Krieg und Leid interessieren. Ich sage nicht, dass Krieg den Menschen egal ist. Doch sie wissen nicht, wie sie auf die schier unendliche Zahl der Darstellungen menschlichen Leidens reagieren sollen. Das wirkt sich auch auf ihre Handlungsbereitschaft aus. Man ging bisher davon aus, dass die Berichterstattung über die Statistik von Tausenden Menschen, die in einem Flüchtlingslager leiden, Leser nicht zum Spenden motiviert, da das dargestellte Problem zu komplex ist. Das Foto einer einzelnen hilfsbedürftigen Familie könnte hingegen eine stärkere Reaktion hervorrufen, da es vorstellbar ist, dass man mit einer kleinen Spende helfen, was verändern könnte. Ich bin mir aber nicht sicher, ob diese Formel der Bild-Reaktion-Handlung angesichts der Flut von Bildern überhaupt noch gilt.
Es sind mehr Bilder von Kriegen und Konflikten im Umlauf als je zuvor.
Im aktuellen Krieg zwischen Israel und Hamas kursieren Bilder aus früheren Kriegen und sogar aus Videospielen, die zu Propagandazwecken genutzt werden. Menschen sind mit einer Mischung von Inhalten aus Vergangenheit und Gegenwart konfrontiert. Das schwächt das Vertrauen. Wir leben in einer Post-Trust-Ära, in der wir unseren Augen nicht trauen können. Die digitalen Kriege des 21. Jahrhunderts scheinen ungeklärt.
Hinzu kommt, dass manche der neueren Bilder KI-generiert sind.
KI verstärkt das Vertrauensproblem. Die Kriege des 20. Jahrhunderts sind in der Geschichte verankert. Es gibt einen gewissen Konsens darüber, was passiert ist, von den Tätern, den Ursachen, den Auswirkungen. Natürlich tauchen manchmal neue Fakten auf. Heute wird jedoch stärker ein Krieg der Bilder geführt, mit Fälschungen und teilweise durch KI generierten Visionen der Welt. Auch wenn ein Krieg endet, ist es heute wahrscheinlicher, dass irgendwo noch Bilder auftauchen, die den Blick darauf verändern.
Leser*innenkommentare
Elf
Ich sehe mir grundsätzliche keine Bilder und Videos von Kriegshandlungen an. Auch Zahlenangaben zu Opfern stehen bei mir immer unter Vorbehalt, da ich diesbezüglich keine Seite einer kriegerischen Auseinandersetzung als vertrauenswürdig ansehe. Wirklich trauen können wir letztlich nur face-to-face-Erfahrungen.