Forscher über 100 Jahre Freies Radio: „Ein Katz-und-Maus-Spiel“
In diesem Jahr wird Rundfunk in Deutschland 100. Von Anfang an nutzten Menschen das Medium auch selbstbestimmt. Alex Körner forscht zu deren Geschichte.
taz: Herr Körner, am 29. Oktober 1923 ging die erste legale Radioansage der Weimarer Republik über den Äther. Wer hat da zugehört?
Alex Körner: Am Anfang wenige und vor allem Leute aus dem Großbürgertum. Radios waren nicht gerade billig.
Was haben Leute gemacht, die sich das nicht leisten konnten?
Einige haben selbst Empfänger gebaut. Schon im April 1924 gründete sich der Arbeiter-Radio-Klub. Da traf man sich zum Basteln und Radiohören. Solche Werkstätten gab’s bald in über 150 Städten. Die Mitglieder haben schnell gemerkt, dass das Programm wenig mit ihrer Lebensrealität zu tun hatte. Man wollte selbst zu Wort kommen. Bald war aber klar, dass das in der Weimarer Republik nicht wirklich möglich war. So kam es zunehmend zu illegalen Sendeaktionen.
Alex Körner, Jg. 1987, ist seit seiner Jugend im Freien Radio Corax in Halle aktiv. Aktuell promoviert er an der Universität Münster zur Geschichte und Gegenwart Freier Radios. Mit Jan Bönkost organisiert er anlässlich des 100. Radiojubiläums die Veranstaltungsreihe „100 Jahre anderes Radio“.
Wie sah das aus?
Zum Beispiel so wie Silvester 1931, da hat ein kommunistischer Techniker die Rundfunkansprache von Reichspräsident Hindenburg gekapert und 15 Minuten lang seine Sicht auf den Jahreswechsel dargelegt. Im Raum Berlin war das ganz gut zu hören. Es gibt außerdem Hinweise darauf, dass es in Berlin illegale Sendeaktionen gab, um auf Zwangsräumungen hinzuweisen. Da hieß es: In Neukölln oder im Wedding wird gerade wer aus der Wohnung geschmissen, weil er die Miete nicht bezahlen kann, hin da!
Im Nationalsozialismus war das wohl vorbei, oder?
Der kommunistische Ableger der Arbeiterradiobewegung, der Freie Radio Bund, wurde 1933 direkt verboten. Die Nationalsozialisten wussten um die Wirkung des Rundfunks. Sie wollten alle Haushalte mit einem „Volksempfänger“ ausstatten, mit dem man nur Propaganda reinbekam. Trotzdem hörten Menschen weiter anderes Radio. Neben dem deutschsprachigen Programm der BBC und von Radio Moskau gab es Sender aus der Spanischen Republik, die antifaschistisches Programm nach Deutschland übertrugen. Der NS-Staat verhaftete Tausende vermeintlicher Hörer als sogenannte Rundfunkverbrecher. Einige wurden zum Tode verurteilt oder kamen ins Konzentrationslager.
Wie ging es dann nach 1945 weiter?
Kurz nach dem Krieg wurde der Schwarzmarkt teils über illegale Sender organisiert. In den 1950ern strahlten dann Musikpiraten sowohl in der BRD als auch in der DDR ihre Lieblingsmusik aus, über selbst gebaute Sender. Politisch linkes Radio kam in der BRD erst mit den Neuen Sozialen Bewegungen in den 70ern auf. Damals entstanden viele alternative Medien, um eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen. Ende der 70er gab es in der BRD über 100 illegale Radioinitiativen, sogenannte Piratensender. Da war die ganze Bandbreite linker Themen vertreten: von Anti-AKW bis Hausbesetzung.
Polizei und Post, die damals für Radio zuständig war, waren den Piratensendern konstant auf den Fersen. Wie macht man so Programm?
Es dauerte maximal 15 Minuten, bis die wussten, von wo man sendet. Die Sendungen mussten also kurz sein und waren meist vorproduziert. Piratenradio war ein Katz- und Mausspiel. Lustig war das nur, bis Menschen erwischt wurden: Auf illegales Senden standen bis zu fünf Jahre Knast.
Trotzdem wollten einige Piratenradios so weitermachen und lehnten eine Legalisierung ab.
In den 1980ern war das tatsächlich eine Diskussion! Die Leute von Radio Zebra aus Bremen etwa wollten auf keinen Fall legal werden. Die wollten kein 24-Stunden-Programm, sondern senden, wenn die Bewegung es braucht, wie von Demos. Im Gegensatz dazu wurde Radio Dreyeckland aus Freiburg 1988 als erstes Freies Radio legalisiert.
Kurz nach der Wende wurden richtig viele Häuser besetzt. Gibt es da Parallelen zum Radio?
Durchaus, da entstanden viele illegale Sender in Ostberlin und den ostdeutschen Bundesländern, anfangs relativ unbehelligt von den Strafverfolgungsbehörden. Zum Beispiel die „Stimme aus dem Untergrund“, Radio P aus Prenzlauer Berg. Im Verlauf des Jahrzehnts wurden dann viele nichtkommerzielle Radios legalisiert, einige von ihnen gründeten 1993 den Bundesverband Freier Radios (BFR).
Heute sind 33 Freie Radios im BFR organisiert. Was ist vom Ursprungsgedanken geblieben?
Die Freien Radios in Deutschland haben sehr unterschiedliche Bedingungen, weil deren Finanzierung Ländersache ist. Auch inhaltlich sind sie divers: Von linker Theorie bis zu unpolitischen Musiksendungen ist alles vertreten. Trotzdem eint sie noch immer der Grundgedanke, Radio fernab von kommerziellen und staatlichen Interessen zu machen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Berliner Kultur von Kürzungen bedroht
Was wird aus Berlin, wenn der kulturelle Humus vertrocknet?