Experte über Angriff in Solingen: „Der IS war nie wirklich tot“
Thomas Mücke ist Experte für Gewaltprävention. Ein Gespräch über die Rückkehr des islamistischen Terrors, Messerverbote und digitale Propaganda.
taz: Herr Mücke, in Solingen wurden drei Menschen bei einem Messerangriff getötet. Der „Islamische Staat“ hat sich zu der Tat bekannt, erstmals seit dem Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz vor acht Jahren. Ist der islamistische Terror zurück in Deutschland?
Thomas Mücke: Ja. Die Bedrohung war immer da, aber seit dem 7. Oktober, seit dem wieder eskalierten Nahostkonflikt hat sich die Lage in Westeuropa deutlich verschärft. Wir haben seitdem acht Anschläge erlebt und 21 Anschläge, die verhindert wurden – eine Vervielfachung im Vergleich zum Jahr 2022. Und das merken wir auch in unserer Beratungsarbeit: Bei unserer Hotline gehen seit Oktober deutlich mehr Fälle ein. Es ist sehr klar: Islamistische Terroristen haben Westeuropa wieder als Ziel definiert.
taz: 2019 wurde der IS noch in Syrien und dem Irak zurückgeschlagen. Nun konnte er sich wieder neu organisieren?
Thomas Mücke, geboren 1958, ist Diplom-Pädagoge, Diplom-Politologe und Mitbegründer des Violence Prevention Network, das mit radikalisierten Jugendlichen arbeitet.
Mücke: Der IS war nie wirklich tot. Es gab immer Ableger, die weiter aktiv waren. Und der islamistische Terror ist eine globale Ideologie, die sich auch ohne feste Gruppen verbreitet. Der neue Nahostkrieg war hierfür eine Steilvorlage für eine emotionale Mobilisierung: Schaut her, hier werden Muslime abgeschlachtet – da könnt ihr doch nicht zuschauen.
Dieses Narrativ nutzt die islamistische Szene seit Jahren, jetzt erfährt es wieder breite Resonanz. Auch die Proteste von Islamisten unlängst in Essen oder Hamburg funktionierten so: Aufgerufen wurde dort wegen der Angriffe auf Gaza – dann wurde für ein Kalifat demonstriert.
taz: Schickt der IS wieder direkt Anhänger in Deutschland los, um Anschläge zu begehen?
Mücke: Klar ist, dass der IS schon länger Aufrufe verbreitet, den Westen und auch Deutschland anzugreifen, mit ganz konkreten Tatanleitungen. Ob der IS im Fall Solingen den Täter direkt angeleitet hat, müssen die Ermittlungen zeigen. Zentral ist aber die Frage, wann und warum sich diese Person radikalisiert hat. Und ob es Menschen gab, die davon etwas mitbekommen haben – aber sich vielleicht nicht trauten, etwas zu sagen.
taz: Laut Behörden war der Tatverdächtige vorher weder mit Straftaten noch politisch aufgefallen.
Mücke: In solchen Fällen haben wir im Grunde keine Chance. Nur wenn das Umfeld eine Veränderung einer Person feststellt – jemand wird plötzlich verschwiegen oder macht Andeutungen – und dies auch der Polizei oder den Hotlines unserer Beratungsstellen mitteilt, können wir handeln. Diese Hinweise sind entscheidend.
taz: Die Union reagierte auf Solingen mit Forderungen nach mehr Abschottung, die Ampelregierung will nun Geflüchteten, für deren Asylverfahren andere Länder zuständig sind, die Leistungen streichen. Sie führte erstmals wieder eine Abschiebung nach Afghanistan durch und plant Messerverbote. Sind das die richtigen Antworten?
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Mücke: Man sollte jetzt nicht so tun, als ob in den letzten Jahren nichts gegen Islamismus getan wurde. Da wurde sehr viel getan – bei den Sicherheitsbehörden und auch beim Aufbau von Beratungsstellen und Präventionsprojekten. Es gibt zwischen beiden Seiten eine sehr professionelle Zusammenarbeit.
Wir haben bei der Fußball-EM gesehen, wie viel Anstrengungen die Behörden für Sicherheit unternommen haben – und am Ende ist ja auch nichts passiert. Und es wurden, wie gesagt, auch viele Anschlagsversuche verhindert. Hundertprozentige Sicherheit aber wird es nie geben.
taz: Also braucht es keine der diskutierten Maßnahmen?
Mücke: Der Staat zeigt mit diesen Maßnahmen seine Handlungsfähigkeit. Diese Maßnahmen beruhen auf verschiedenen Säulen, unter anderem soll die Präventionsarbeit ausgebaut werden. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Ein Messerverbot ist es eher nicht. Zumindest nicht, wenn es um Terrorbekämpfung geht.
Menschen, die solche Taten begehen, setzen alles als Waffe ein, was für sie verfügbar ist. Ein Waffenverbot schränkt sie in keiner Weise ein und ist auch nicht kontrollierbar. Das hätte überhaupt keine Wirkung. Wenn es eine Wirkung hätte, dann nur auf die Alltagskriminalität und auf das Sicherheitsempfinden der Menschen.
taz: Und mehr Abschiebungen und Zurückweisungen an der deutschen Grenze?
Mücke: Um jemanden wegen Terrorplänen abzuschieben oder zurückzuweisen, braucht man erst mal Kenntnis von diesen Plänen – was im Fall Solingen ja nicht der Fall war. Und man darf nicht vergessen: Terroristische oder extremistische Organisationen rekrutieren bei Weitem nicht nur Flüchtlinge. Sie sprechen alle Menschen an, die sie erreichen können. Das zeigt sich auch in unserer Beratungsarbeit: Geflüchtete machen hier nur einen sehr kleinen Teil aus.
taz: Die Ampel verspricht auch mehr Druck auf die islamistische Szene. Richtig so?
Mücke: Ja, aber da gibt es nicht die eine Lösung. Wo wir tatsächlich ein Problem haben, ist beim digitalen Hass und der Propaganda, die im Internet kursiert. Es ist klar, dass dies Radikalisierungsprozesse verstärkt und dass es verschwinden sollte. Ein Problem sind auch Kommunikationskanäle auf Telegram und anderswo, über die sich Gruppen verdeckt verabreden und rekrutieren. Auch hier brauchen wir dringend eine Reglementierung.
taz: Der Telegram-Chef wurde zwischenzeitlich festgenommen. Sie fordern Weiteres? Mücke: Wir brauchen klare Regeln für diese Messengerdienste und Plattformen, damit sie terroristische und extremistische Inhalte konsequent löschen. Das betrifft auch nicht nur Telegram, sondern weitere Anbieter wie Tiktok. Aber das reicht nicht aus. Wir müssen vor allem gucken, was die Menschen bewegt, die sich von solcher Propaganda angesprochen fühlen. Deshalb ist die Präventionsarbeit ein ganz zentraler Punkt.
taz: Sind wir bei der Islamismusprävention gut aufgestellt?
Mücke: Da hat sich in den letzten zehn Jahren wirklich viel getan, der Präventionsbereich ist hier in Deutschland inzwischen breit aufgestellt und auch sehr innovativ, passt sich immer schnell an die Szene an. Ein großes Problem bleibt, dass eine langfristige Finanzierung der Projekte bis heute nicht gegeben ist. Stand jetzt sind die Ressourcen für gute Präventionsarbeit da – aber ob das in Zukunft so gilt, weiß niemand.
taz: Ein Problem sind radikalisierte Einzeltäter, die schwer aufzuspüren sind. Wie gehen Sie damit in der Präventionsarbeit um?
Mücke: Ja, es gibt Personen, die sich nur online aufputschen. Aber in den meisten Fällen – und das sind auch die, die in unseren Beratungen landen – ist es eine Mischung: Diese Personen haben auch direkten Kontakt zu anderen. Die allerwenigsten radikalisieren sich allein durch Videos oder Chats. Diese Radikalisierung umzukehren, ist eine langwierige, intensive Arbeit, aber es ist möglich. In neun von zehn Fällen gelingt uns das.
taz: Die Täter, die in letzter Zeit wegen islamistischer Anschlagspläne festgenommen wurden, waren teils noch Teenager.
Mücke: Ja, das macht mir große Sorgen. Zwei Drittel der festgenommenen Tatverdächtigen in Westeuropa waren in einem sehr jungen Alter. Und das hat seit dem 7. Oktober noch mal zugenommen. Hier müssen wir sehr, sehr aufmerksam sein: Die extremistische Szene scheint gerade genau in diesem Feld zu rekrutieren – das zeigen auch die Beratungsanrufe, die wir erhalten. Da müssen wir schnell die Auseinandersetzung suchen. Wir dürfen diese jungen Menschen nicht den Extremisten überlassen, sonst haben wir hier die nächste Terrorgeneration.
taz: Nach früheren Anschlägen folgten oft zeitnah weitere. Ist jetzt damit zu rechnen?
Mücke: Wir können das leider nicht ausschließen. Denn die terroristischen Organisationen haben daran Interesse. Sie versuchen, die demokratischen Gesellschaften zu spalten und werden hier nicht nachlassen. Deshalb müssen wir genau dem entgegenwirken.
taz: Durch die bevorstehenden Landtagswahlen scheint das nicht gut zu funktionieren, AfD oder CDU schlagen brachiale Töne an.
Mücke: Ja, das ist ein sehr schwieriger Zeitpunkt. Und trotzdem müssen wir uns ermahnen, Diskussionen so zu führen, dass es nicht zu gesellschaftlichen Spaltungen kommt. Alles andere zahlt genau in das Kalkül der Terroristen ein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland