Ex-Bundespräsident Scheel gestorben: Ein weitsichtiger Liberaler

Im Alter von 97 Jahren ist der frühere Bundespräsident Walter Scheel gestorben. Er gilt als Architekt der sozialliberalen Koalition.

Walter Scheel sitzt in einer gelben Kutsche in einem TV-Studio

Gelber Wagen: Walter Scheel (rechts) kam von der Sache mit Postkutsche nicht mehr los Foto: dpa

BERLIN taz | Gerecht sind historische Urteile über Politikerinnen und Politiker nur selten. Manchen Verstorbenen wird großer, unverdienter Nachruhm zuteil, während andere schon zu Lebzeiten fast vergessen sind. Und dann gibt es die, an die man sich weniger wegen ihrer Verdienste, sondern wegen skurriler Eigenschaften, Begebenheiten oder Handlungen erinnert.

Zu denen gehört Altbundespräsident Walter Scheel, der jetzt im Alter von 97 Jahren gestorben ist. Als lebenslustig und – um ein altmodisches Wort zu benutzen – „volksnah“ galt der FDP-Politiker und auch als jemand, der durchaus bereit war, dem Affen der Popularität den Zucker nicht zu verweigern.

1973 bewies der damalige Außenminister das auf eine Art und Weise, die heute kaum mehr als ein Achselzucken hervorrufen würde, seinerzeit aber in der politischen Klasse für viele gerümpfte Nasen und hochgezogene Augenbrauen sorgte: In einer Fernsehshow sang er mit zwei Männergesangsvereinen das Volkslied „Hoch auf dem gelben Wagen“. Die daraus entstandene Schallplatte hielt sich 15 Wochen in den deutschen Charts.

Immerhin. Aber ein deutscher Außenminister in der Postkutsche, wenn das kein Achsenbruch ist. Derlei spießige Kritik dürfte Scheel seinerzeit ziemlich egal gewesen sein. Aber vielleicht hat er in späteren Jahren seinen Fernsehauftritt doch bereut. Denn bis heute ist dieser Gesangsauftritt das Erste, was den meisten zu Walter Scheel einfällt, wenn ihnen überhaupt etwas zu ihm einfällt. Und das ist eben zutiefst ungerecht.

Es ist nämlich fraglich, ob der Friedensnobelpreisträger und bis heute zu Recht hochgeachtete Willy Brandt seine Entspannungspolitik ohne Walter Scheel je hätte konkret in Angriff nehmen können. Scheel, der bereits 1946 in die FDP eintrat und 1968 zu ihrem Vorsitzenden gewählt wurde, gehörte zu dem Kreis derer, die die zeitweise von nationalistischen und rechten Kräften beeinflusste Partei zu einer sozialen und liberalen Kraft innerhalb des politischen Spektrums von Westdeutschland werden lassen wollte.

Innere Reform seiner FDP

Die „Freiburger Thesen“, das neue Grundsatzprogramm der FDP, die 1971 von einem Parteitag in Freiburg verabschiedet wurden, bedeuteten den – vo­rübergehenden – Sieg dieser Richtung und einen großen persönlichen Erfolg von Walter Scheel. Er war ein überzeugter Liberaler, im besten Sinne des Wortes. Mindestens ebenso wichtig wie die innere Reform seiner Partei war ihm die Öffnung der FDP für eine andere Koalition als die mit der Union. Ohne Scheel wäre es 1969 vermutlich nicht zur Bildung der ersten sozialliberalen Koalition gekommen, ohne ihn wäre der SPD-Politiker Willy Brandt vielleicht niemals Bundeskanzler geworden, ohne ihn hätte es die Neue Ostpolitik wahrscheinlich nicht gegeben.

Als Bundespräsident schien Scheel nie seine Rolle gefunden zu haben

Es liegt eine bittere Ironie darin, dass Hans-Dietrich Genscher, sein Nachfolger als FDP-Vorsitzender und als Außenminister, bis heute als bedeutender Staatsmann gilt, während Walter Scheel fast vergessen ist.

Dabei war er es gewesen, der die Weichen für den bis dahin wichtigsten politischen Paradigmenwechsel der Nachkriegszeit in Westdeutschland gestellt hatte. Vielleicht liegt die Vergesslichkeit der Öffentlichkeit auch daran, dass Walter Scheel später als Bundespräsident nie seine Rolle gefunden zu haben schien.

Von 1974 bis 1979 übte er dieses Amt aus, aber es war eher seine zweite Ehefrau Mildred – die erste Frau war nach 24-jähriger Ehe gestorben – , deren Wirken als Gründerin der Deutschen Krebshilfe aus diesen Jahren im Gedächtnis geblieben ist. Der Präsident selbst blieb blass.

In den letzten Jahren seines Lebens lebte Walter Scheel, seit 1988 in dritter Ehe mit Ehefrau Barbara verheiratet, in einem Pflegeheim in Bad Krozingen bei Freiburg.

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