Evangelischer Kirchentag in Hannover: Ein bisschen Politik muss sein
Zehntausende versammeln sich zu Gebet und politischen Diskussionen. Die schwierigen Debatten um Gaza und die Friedensbewegung finden aber nicht statt.

Auch wenn Klöckners Name gar nicht fällt, sendet bei der feierlichen Eröffnung am Mittwochabend in Hannover nahezu jeder Redner und jede Rednerin – Kirchentagspräsidentin Anja Siegesmund genauso wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) – die Botschaft aus: Natürlich ist das hier politisch.
Bereits bei seiner Gründung 1949 war der Kirchentag als Antwort gedacht auf das katastrophale Verstummen der Amtskirche in der NS-Zeit, als demokratischer Aufbruch der Laienbewegung in einer von Erstarrung bedrohten Institution.
Die 39. Auflage des Deutschen Evangelischen Kirchentages zeigt erst einmal alles, was man so kennt von Kirchentagen: Zu den zwei Eröffnungsgottesdiensten strömen Zehntausende Menschen in die Innenstadt, in der anschließend noch ein riesiges Straßenfest gefeiert wird – mit viel Musik und Ständen, die nicht nur von Kirchen, Vereinen und Institutionen gestaltet werden, sondern auch von Dutzenden NGOs, die irgendwie für eine bessere und gerechtere Welt einstehen wollen.
Bibelstunde mit der Altkanzlerin
Die großen politischen Fragen der Zeit werden dann von Donnerstag bis Sonntag vor allem auf dem Messegelände, aber auch in Kirchengemeinden und anderen Veranstaltungsorten (insgesamt 60) in der ganzen Stadt verhandelt. Rasch ausgebucht war auch die Bibelarbeit mit Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel. Rund 5.000 Menschen jubelten ihr zu – vor allem als sie noch einmal die Worte sagte, die ihr nach eigenem Bekunden „so oft um die Ohren gehauen wurden“: „Wir schaffen das.“ In einer kleinen Rückschau auf einschneidende Erlebnisse in ihrer Amtszeit übte Merkel auch Selbstkritik: Der großen Herausforderung des Klimawandels werde man immer noch nicht gerecht. Das scheint überhaupt eine Frage zu sein, die das Kirchentagspublikum ganz besonders umtreibt: Auch vor der Halle 17 mit dem Podium zum Thema „Nach uns die Sintflut?“ bildeten sich lange Schlangen.
Es gibt allerdings auch Themen, bei denen selbst die Diskussionsbereitschaft des Kirchentages an ihre Grenzen zu kommen scheint. So sei es leider nicht gelungen, ein Nahost-Podium mit Stimmen aus der Region zu Stande zu bekommen, erklärte Elisabeth von Thadden, Zeit-Journalistin und Mitglied des Kirchentagspräsidiums. Man habe sich eine ganze Reihe von Absagen eingefangen, die deutlich machten, wie schwierig es sei, über dieses Thema in Deutschland offen zu sprechen.
Man behalf sich schließlich mit dem aus Tel Aviv zugeschalteten deutschen Botschafter in Israel, Steffen Seibert und der kampferprobten Schriftstellerin Eva Menasse, die auf sehr unterschiedliche Weise für „doppelte Solidarität“ mit Israel wie mit Palästina warben. Auf einem anderen Podium kritisierte der Historiker Michael Wolffsohn, wie angesichts des Gazakrieges mit dem Begriff Genozid hantiert werde. Im Vorfeld hatten Kirchenvertreter wie die Geschäftsführerin der Evangelischen Erwachsenenbildung Westfalen, Antje Rösener, in einem offenen Brief kritisiert, dass palästinensische Stimmen auf dem Kirchentag praktisch kaum auftauchten – während das Christlich-Jüdische Zentrum traditionell stark vertreten ist.
Ähnlich verhält es sich mit Teilen der kirchlichen Friedensbewegung und dem Kirchentag. Margot Käßmann – früher ein Star der Veranstaltung – tritt zwar auch in diesem Jahr wieder mit einer Bibelarbeit auf. Ihre dreitägige Friedenssynode läuft aber genauso außerhalb oder parallel zum offiziellen Kirchentagsprogramm wie der Palästina-Tag am Samstag.
An diesem Tag wird übrigens auch Julia Klöckner auf dem roten Sofa des Kirchentages Platz nehmen. Dann kann sie noch einmal ganz genau erklären, wie sie das mit den tagespolitischen Äußerungen der Kirchen gemeint hat.
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