Eva Illouz über Israels Linke: „Sie hat keine starke soziale Vision“
Als Jitzhak Rabin ermordet wurde, hörte die Soziologin auf, religiös zu sein. Ein Gespräch über Angst, fehlenden Liberalismus, die Linke und die jüdische Psyche.
Wir sind im Hotel Savoy in Berlin verabredet. Eva Illouz sitzt im Restaurant und löffelt eine Suppe.
taz: Frau Illouz, darf ich Ihnen Fragen stellen, während Sie Ihre Suppe essen?
Eva Illouz: Natürlich, es tut mir leid! Ich bin nachher zum Essen eingeladen und hatte gehofft, es bis dahin auszuhalten. Aber dann hatte ich so großen Hunger, ich musste mir etwas zu essen bestellen.
Wenn Sie hungrig sind, müssen Sie essen! Ich habe es erst heute Nachmittag geschafft, Ihr Buch zu Ende zu lesen.
Es ist kein Buch, es ist eine Sammlung von Artikeln.
Sie haben diese Artikel zwischen 2011 und 2014 für die linksliberale Tageszeitung Ha’aretz geschrieben. War das eine Serie?
Nein, ich habe immer dann geschrieben, wenn ich mich inspiriert fühlte. Es gab keinen Masterplan, wenn das die Frage war. Nett, dass wir beide uns alle paar Jahre wieder treffen.
Und immer, wenn ich Sie interviewe, müssen Sie essen, weil Sie Hunger haben. Das ist mir sehr sympathisch.
Wirklich?
Das letzte Mal haben Sie gefrühstückt, und nach einer halben Stunde saßen wir beide mit vollem Mund da. Aber zurück zu Ihren Artikeln, vor der Wahl zur Knesset im Jahr 2013 haben Sie geschrieben: „Am Ende wird die Linke siegen.“
Ganz am Ende!
Sie bezeichnen die sozialdemokratische Meretz und die kommunistische, jüdisch-arabische Chadasch als Parteien, die linke Werte vertreten. Das sind sehr kleine und, wie Sie sagen: ziemlich realitätsferne Parteien. Welche Zukunft hat die Linke in Israel?
Ich habe ein bisschen Angst, mich mit einer falschen Prognose lächerlich zu machen. Wenn die Linke nicht ihre Strategie ändert, wird sie keine Chance haben – außer die Rechte macht so krasse Fehler, dass sich die Israelis für eine Mitte-links-Regierung entscheiden müssen. Derzeit sehe ich das aber nicht.
Die Tatsache, dass die Rechte mit einigen kurzen Unterbrechungen 20 Jahre regiert hat, hat Denkstrukturen geformt, die schwer zu verändern sind. Dazu gehören der Nationalismus und das Misstrauen gegenüber Europa und inzwischen auch gegenüber den Vereinigten Staaten. Das macht es sehr schwer, die Israelis dazu zu bringen, Probleme überhaupt anzuerkennen und adäquat einzuordnen. Die sozialen Proteste vor fast vier Jahren waren diesbezüglich sehr interessant.
Die Frau: Eva Illouz wurde 1961 im marokkanischen Fes geboren. Als sie zehn Jahre alt war, zog die Familie nach Frankreich. Sie studierte in Paris. Heute lebt sie in Jerusalem.
Die Soziologin: Eva Illouz lehrt als Professorin an der Hebräischen Universität Jerusalem. Seit 2012 ist sie die Präsidentin der Jerusalemer Bezalel Academy of Arts and Design. Bekannt wurde Illouz durch ihre Studien zur Ökonomie der Gefühle im Kapitalismus und die Rolle der Psychologie bei der Entwicklung des modernen Unternehmens.
Das Buch: Ihre zwischen 2011 und 2014 in der israelischen Tageszeitung Ha’aretz veröffentlichten Essays sind vor Kurzem unter dem Titel „Israel“ bei Suhrkamp auf Deutsch erschienen: Das Buch umfasst 229 Seiten und kostet 18 Euro.
Damals hat die linksliberale Mittelklasse von Tel Aviv wochenlang Zelte auf dem Grünstreifen des Rothschild-Boulevard aufgeschlagen, der wahrscheinlich teuersten Straße des Landes.
Israelis müssen lange in der Armee dienen, und die Steuern sind hoch. Hinzu kommt, dass die Bevölkerung in den vergangenen Jahren enorme Preissteigerungen verkraften musste. Wohnungen sind selbst für die gehobene Mittelklasse, und da schließe ich mich ein, kaum mehr zu bezahlen, während wir es zugleich mit einer politischen Blockade zu tun haben. Und dennoch inszenierte sich diese Protestbewegung als große Familienfeier.
Es gelang ihr nicht, sich in eine wirkliche Protestbewegung zu transformieren, weil erstens im politischen Ethos Israels die Idee der Solidarität stark verankert ist. Zweitens gibt es keine Bürgergesellschaft, die den Namen verdient: Die Bürger haben keine Vorstellung davon, signifikant andere Interessen als die Regierung zu haben. Historisch wurde die Linke mit dem Staatsapparat identifiziert, sie entwickelte sich als regierende Partei, weswegen es sehr schwer für sie ist, ein Ethos des Protests zu entwickeln.
Sie sprechen hier von der israelischen Linken. In vielen Gesellschaften verhält es sich anders.
Richtig. Die israelische Linke hat sich außerdem so stark auf den Konflikt mit den Palästinensern konzentriert, dass sie keine starke soziale Vision entwickelt hat. Links zu sein hieß in Israel sehr lange – mir ist klar, dass das vielleicht zynisch klingt –, sich mit Palästinensern und Arabern zu treffen. Man hegte die Hoffnung, dass sich aus dem zwischenmenschlichen Dialog gegenseitiges Verständnis entwickeln würde.
Israel wurde nicht als universalistischer Staat gegründet, und die Linke hat es versäumt, Universalismus einzufordern. Bevor man Pluralist oder Multikulturalist sein kann, muss man ein universalistisches Gemeinwesen haben. Israel war zwar immer schon multikulturell, der Staat aber wurde mit einer ethnischen Gruppe identifiziert.
Sie unterscheiden zwischen dem demokratischen Ideal, das integraler Bestandteil des Zionismus ist, und der Idee des Liberalismus, deren Fehlen Sie beklagen.
Viele der Gründer des israelischen Staats sahen die amerikanische Verfassung und das multikulturalistische Modell der Vereinigten Staaten als Vorbild, andere kamen aus Russland und Deutschland, wo die Idee des Universalismus stark mit den Bewegungen des Sozialismus und des Kommunismus verknüpft war.
Der genuin französische Universalismus, in dessen Namen ich spreche, nimmt aber als Republikanismus Gestalt an: Der Staat ist der Ort, an dem das Gemeinwohl verwaltet wird. Bürgerrechte werden in abstrakten, neutralen Begriffen definiert. Staatsangehörigkeit ist eine Klammer für unterschiedliche Identitäten. Die französische Idee des Universalismus ist in Israel kaum bekannt.
Sie erklären das schwierige Verhältnis jüdischer politischer Organisationen zu liberalen Werten aus der historischen Erfahrung der Diaspora.
Als Soziologin würde ich sagen, dass der Genius der jüdischen Religion darin besteht, wie sie sich als Minderheitenreligion organisiert hat. Der Druck von außen war immer sehr hoch. Die Juden sollten konvertieren, sich ändern. Daher gibt es im Judentum diese brillanten Regeln, die darauf abzielen, die Juden von anderen Teilen der Bevölkerung zu isolieren und Assimilation zu verhindern.
Ich bin keine Religionswissenschaftlerin. Aber soweit ich das übersehe, ist das Judentum die Religion, die sich am stärksten mit der Frage der Assimilation, der Gefahr ihres Verschwindens als Folge von Eheschließungen mit Andersgläubigen oder durch den Prozess der Säkularisierung befasst. Es hat daher Regeln entwickelt, die darauf abzielten, Jüdischsein als etwas Essenzielles zu begreifen, das zur Person gehört. Man konnte zum Judentum konvertieren, aber es wurde auch durch die biologische Abstammung definiert. Das hat es dem Judentum ermöglicht, Assimilationsdruck, Verfolgung und Antisemitismus standzuhalten.
Wenn man aber diese Religion, deren Regeln unter einem jahrhundertelangen Druck entstanden sind, zur Mehrheitsreligion macht, hinter der ein Staat steht, besteht die Gefahr, dass etwas, was klug und gerechtfertigt war, inkompatibel mit den Herausforderungen einer liberalen und demokratischen Gesellschaft wird.
Sie haben einen kleinen Katalog notwendiger Liberalisierungsmaßnahmen für Israel entwickelt.
Was ich da zusammengetragen habe, ist nicht so originell. Ich schlage zwei größere Reformen vor. Die eine würde darin bestehen, Religion und Staat zu trennen. Natürlich sollten wir den jüdischen Kalender behalten und jüdischen Feiertagen und Symbolen einen privilegierten Status einräumen. Aber andere Religionen sollten im öffentlichen Leben eine höhere Legimität zugesprochen bekommen.
Muslime sollten sichtbarer werden. Eheschließung und Scheidung müssten dem Rabbinat entzogen, das Institut der Zivilehe eingeführt werden. Die andere grundsätzliche Reform wäre, eine Berufsarmee einzurichten. Ich bin überzeugt davon, dass eine Berufsarmee dasselbe leisten, aber nicht so stark den kulturellen Horizont der israelischen Gesellschaft prägen würde.
Viele der Probleme, die Sie beschreiben, lassen sich darauf zurückführen, dass in der Moderne verschiedene Antworten auf die Frage gegeben werden, was Juden sind oder sein sollen.
Als Soziologin weiß ich, dass Gesellschaften, Völker keine natürlichen Objekte sind.
Es geht um die Frage der Selbstdefinition.
Richtig. Gesellschaften definieren sich selbst. In der Diaspora waren Juden zugleich eine Religionsgemeinschaft und eine ethnische Gruppe. Aber wenn Zionismus eine Bedeutung haben soll, dann liegt sie genau darin, dieses Dilemma zu lösen, indem ein Drittes geschaffen wird: Die Juden bilden keine Religionsgemeinschaft und keine ethnische Gruppe mehr, sondern werden zu einer Nation. Das ist die Idee des Zionismus.
Sobald eine Gruppe politische Souveränität erlangt, liegt es nahe, dass sich diese Gruppe auch anders definiert. Die Rabbinen, die Ende des 19. Jahrhunderts den Zionismus verdammt haben, erkannten das genau.
Sie wussten, dass der Zionismus die überkommene Definition des Judentums radikal infrage stellt.
Der Zionismus konnte nur deswegen so lange eine so große Begeisterung unter Juden auslösen, weil er einen historischen Aufbruch repräsentiert hat.
Sie äußern Ihre Kritik auf Basis der Annahme, dass das zionistische Projekt historisch notwendig war.
Absolut.
Was bedeutet das für Sie als Intellektuelle?
Die Aufgabe des Intellektuellen war traditionell, eine Position einzunehmen und sie der Öffentlichkeit zu vermitteln. Partei zu ergreifen. Wenn man als Intellektuelle verantwortungsbewusst über Israel sprechen will, muss man eine andere Position einnehmen.
Warum?
Weil man zwei widersprüchliche Bilder übereinanderlegen muss. Zum einen ist das jüdische Volk heute der Träger eines historischen Gedächtnisses, zum anderen verändert es Geschichte auf eine bestimmte Weise an einem bestimmten Ort. Man kann diese beiden Anteile voneinander trennen, aber man sollte es nicht.
Deswegen ist es die Aufgabe des Intellektuellen in Israel, seine Aufmerksamkeit auf die sich daraus ergebenden Widersprüche, Paradoxien und Ambivalenzen zu richten. Was nicht bedeutet, dass ich die Politik Netanjahus, etwa die Autorität des obersten Gerichts zu unterminieren, nicht stark kritisiere. Ich kann Israels Politik aber vorbehaltloser in Israel kritisieren, weil ich sicher sein kann, dass es nicht als antizionistisch verstanden werden wird.
In einem Ihrer Texte berichten Sie von der Offenbarung, die Sie erlebt haben, als Sie nach Ihrer Promotion von Frankreich nach Israel kamen, die dazu führte, dass Sie aufhörten, orthodox zu leben. Erzählen Sie davon.
Um ein wenig zu provozieren, habe ich geschrieben, dass ich nach Israel einwandern musste, um wirklich säkular und links zu werden. Ich wuchs in einer orthodoxen Familie auf und blieb es bis 1995, das heißt, ich hielt etwa streng die Schabbat-Ruhe ein. Als ich zehn war, zog meine Familie aus dem marokkanischen Fes nach Frankreich. Dort ging ich in eine staatliche Schule und fühlte mich zu linken Gruppen hingezogen, als ich etwa dreizehn war. Wir waren Marxisten, Trotzkisten, und das erschien mir natürlich. Ich sah darin keinen Widerspruch zu meiner Religiosität.
Nachdem ich zwei Jahre in Israel gelebt hatte, ging ich für ein Sabbatical in die USA. 1995 kam ich nach Israel zurück, und am 4. November 1995 wurde Jitzhak Rabin von einem religiösen Juden ermordet, der sich der Sache der Siedler verschrieben hatte. Natürlich kann man ein religiöser Jude sein und die Menschenrechte verteidigen. Mir ist bewusst, dass es überall auf der Welt viele Menschen gibt, die das für sich in Anspruch nehmen können.
Aber ich hatte nach der Ermordung Rabins eine Epiphanie in Bezug auf die Tatsache, dass meine Orthodoxie bisher von einem säkularen Staat geschützt worden war. Ich hatte bis dahin nie darüber nachgedacht, dass sowohl Frankreich als auch die USA mir die Möglichkeit eröffnet hatten, als jüdischer Bürger meine Religion auszuleben.
Es war so selbstverständlich gegeben, dass Sie darüber nicht nachgedacht haben.
Als Rabin ermordet wurde, fühlte ich zum ersten Mal, dass ich mich entscheiden muss – das war ein emotionaler Vorgang, keine intellektuelle Überlegung. Vorher hatte ich nie das Gefühl, mich entscheiden zu müssen, denn als religiöse Jüdin in Frankreich und den USA waren meine Rechte geschützt. Nun aber zwang mich der Attentäter Jigal Amir, mich zu fragen, wie ich mich entscheiden würde, wenn ich zwischen meinem Judentum und einem säkularen Staat wählen müsste. Nach dem Schock des Attentats dachte ich eine Woche lang nach. Ich kam zum Schluss, dass ich den liberalen, säkularen Staat und seine universalistischen Werte wählen würde.
Ich verstehe Ihre Überlegungen – bis auf den Schluss, den Sie am Ende gezogen haben. Warum reichte es nicht aus, zu erkennen, dass westliche, liberale Demokratien bis dahin ihre religiösen Überzeugungen geschützt hatten?
Ich hatte das Gefühl, dass es eine Hierarchie der Überzeugungen gibt, und dass es schwer wäre, beides miteinander in Einklang zu bringen. Foucault würde sagen, dass wir es hier mit verschiedenen Wahrheitsregimen zu tun haben. Das Judentum formuliert zu bestimmten Fragen sehr starke Wahrheitsansprüche, denen man sich zu stellen hat. Der israelische Staat wiederum konstruiert sein Verhältnis zum Judentum so, dass man als Bürger immer wieder vor der Frage steht, ob man sich zuerst als Jude oder zuerst als Mensch fühlen soll.
Glauben Sie, dass sich viele Israelis dieser Kritik anschließen?
Absolut. Viele werden Ihnen sagen, dass sie als religiöse Juden in Israel ankamen, dann aber aufhörten, sich als religiöse Juden zu definieren. Viele meiner Freunde haben das ähnlich erlebt. Manche sagen: Ich wollte mich nicht mit ihnen identifizieren, womit sie die Nationalreligiösen oder die extreme Rechte meinen. Andere sagen, in Israel hätten sie ihre religiöse Identität nicht mehr gebraucht. Wieder andere erklären, dass sie sich bald weniger als Juden, sondern als Israelis begriffen.
Die Antworten variieren, aber das Phänomen ist weit verbreitet. Auch wenn sich die Lage inzwischen geändert hat: Bei vielen religiösen Juden, die in den vergangenen zehn Jahren nach Israel gekommen sind, verhält es sich genau andersherum.
Das oberste Gericht hat 2013 die Klage einiger Bürger zurückgewiesen, die ihre Nationalität in offiziellen Dokumenten nicht als jüdisch, sondern als israelisch definiert haben wollten.
Das ist ein großer Widerspruch. Die israelische Regierung kämpft zu Recht gegen antizionistische Positionen, weil Israel ein Existenzrecht hat. Aber zugleich erkennt es die eigene Nationalität nicht an. Das ist absurd. Der Grund dafür ist offensichtlich: Israel würde dann gezwungen sein, die arabischen Bürger als gleichberechtigt anzusehen.
Das würde für alle nichtjüdischen Bürger gelten.
Zwanzig Prozent der Bürger Israels sind nichtjüdisch. Israel muss sich dem Problem der Nationalität stellen, oder es wird kein liberaler, demokratischer Staat mehr sein. Vielleicht liege ich da auch falsch, aber seit 20 Jahren wird uns erzählt, Israel sei ein Sonderfall. In der Praxis hat diese Einschätzung vor allem antiliberalen und antidemokratischen Kräften dabei geholfen, in Israel Fuß zu fassen.
Ich sehe keinen Sonderfall, ich sehe etwas vollkommen Normales: Wenn man eine Nation in starken ethnisch-religiösen Begriffen definiert, wird diese Ethnizität Bedingungen schaffen, die ihre Vorherrschaft über andere Gruppen ermöglichen. Die Israelis sollten keine Angst davor haben, das zu ändern. Angst ist aber ein Gefühl, das tief in der jüdischen Psyche verankert ist, und das hat seine Gründe.
Trotzdem kann Israel nur weiter existieren, wenn es eine dritte Alternative in der Geschichte des jüdischen Volks formulieren kann. Es muss einen starken, liberalen, säkularen israelischen Staat geben, der Religionsgemeinschaften schützt. Es wird weiterhin leichter sein, als Jude in Israel religiös zu sein, weil der Kalender jüdisch bleiben wird. Aber Religion und Staat werden viel stärker voneinander getrennt sein.
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