Europawahl am 9. Juni: Es darf wieder geworben werden
In Berlin hängen wieder Wahlplakate – die Wahl fürs Europaparlament am 9. Juni steht an. Erstmals dürfen die 16- und 17-Jährigen zur Urne gehen.
Das Spezielle dieser Wahl ist von jeher ihr großes Manko: Es gibt keine Wahlkreise, keine direkt gewählten Kandidaten, keine Duelle um Berliner Mandate im EU-Parlament, wo Deutschland 96 Sitze zustehen. Fast alle Parteien treten mit einer bundesweiten Kandidatenliste an, auf der am Wahltag in Flensburg und Berchtesgaden dieselben Kandidaten stehen wie in Berlin. Nur bei der CDU ist das anders: Sie hat in jedem Bundesland eine eigene Landesliste, weil in Bayern nicht sie, sondern die CSU antritt.
Von Nachteil ist das Fehlen von Wahlkreisen deshalb, weil es in der Regel solche Zweikämpfe sind, die für Interesse und starke Wahlbeteiligung sorgen. Die Partei, die von sich sagt, sie werde nicht wegen Personen, sondern wegen ihrer Inhalte gewählt, hat da naturgemäß einen Vorteil: Die Grünen schneiden bei Europawahlen traditionell gut in Berlin ab. 2019 wurden sie in Berlin klarer Wahlsieger und holten mit fast 28 Prozent fast doppelt so viele Stimmen wie CDU (15,2) und SPD (14 Prozent).
Die Grünen sind auch die Partei, für die im Europaparlament die meisten Berliner sitzen: Je nach Zählung waren das nach der jüngsten Wahl fünf Abgeordnete. Dieses Mal rechnet man in ihrem Landesverband selbst mit einem etwas schwächeren Ergebnis.
Bis Freitag werden in Berlin die Stimmzettel an die Bezirke ausgeliefert. Am Montag darauf (29. April) startet der Versand der Wahlbenachrichtigungen und Wahlunterlagen, wie Landeswahlleiter Stephan Bröchler am Montag bekannt gab. In Berlin sind knapp 2,8 Millionen Menschen wahlberechtigt, davon rund 251.000 EU-Bürgerinnen und -Bürger ohne deutschen Pass. Erstwähler ab 16 Jahre, die dieses Jahr zum ersten Mal mitwählen dürfen, gebe es etwa 36.000, so Bröchler. Gesucht werden noch Wahlhelfer: Insgesamt werden 30.000 benötigt. Interessenten können sich beim Landeswahlleiter melden (berlin.de/wahlen/). Um die Werbetrommel für die Teilnahme an der Wahl zu rühren, kündigte Bröcher die Kampagne „Berlin braucht Ihre Stimme" an. (dpa)
Berliner Grüne gut vertreten
Mindestens drei aus ihren Reihen sind dennoch sicher wieder im Parlament, allen voran Sergey Lagodinsky. Er steht auf der Grünen-Bundesliste auf Platz 2, schon auf Platz 5 folgt Hannah Neumann, auf Platz 8 Erik Marquardt. Auch Anna Cavazinni, dieses Mal von den sächsischen Grünen für die Bundesliste nominiert, ist auf Platz 3 sehr gut positioniert – 2019 gewannen die deutschen Grünen 21 Sitze. Käme es ähnlich gut wie damals, wäre neu auch Jan-Denis Wulff auf Platz 18 im Europaparlament, Polizist und Sohn eines türkischen Einwanderers.
Zu wissen, dass sie weiter im EU-Parlament sitzen werden, haben die genannten Grünen gemeinsam mit Gaby Bischoff (SPD) und Martin Schirdewan – der Ostberliner Bundesvorsitzende der Linkspartei ist sogar Spitzenkandidat. Beide werden aber mutmaßlich die einzigen Vertreter ihrer Berliner Landesverbände im Europäischen Parlament sein.
Hildegard Bentele von der CDU hingegen musste 2019 in der Wahlnacht länger zittern. Bei den Christdemokraten hängt es vom Ergebnis des jeweiligen Landesverbands ab, wann und ob ihre dortigen Kandidaten bei der Verteilung der insgesamt gewonnenen Mandate berücksichtigt werden. Weil Benteles Berliner CDU 2019 schwächelte, war nicht klar, ob es für sie ausreichen würde. „Jetzt ist die Ausgangslage deutlich besser als beim vergangenen Mal“, sagte Bentele der taz – die CDU hat in Berlin in der jüngsten Umfrage fast doppelt soviel Rückhalt wie vor fünf Jahren.
Bentele hat einen grundsätzlich positiven Blick auf das Interesse der Wählerschaft an EU-Themen und am Europaparlament. Die Wahl 2019 sei aber eine besondere gewesen: „Beim letzten Mal hatten wir den Brexit, das hat die Leute schon besonders motiviert, zur Wahl zu gehen“, sagte sie. „Ich finde, der durch Russland ausgelöste Krieg in der Ukraine, einem EU-Beitrittskandidaten, müsste ein ähnliches proeuropäisches Moment auslösen, die Reaktionen in Ostdeutschland sind aber nicht durchgängig so.“ 2019 war die Wahlbeteiligung gegenüber der Wahl von 2014 bundesweit um fast ein Viertel gestiegen, und auch in Berlin von 46,7 auf über 60,6 Prozent.
Kleinstparteien haben Chancen
Das vorigen Dienstag veröffentlichte Eurobarometer zur Stimmung in der EU-Wählerschaft spricht von einem „positiven Aufwärtstrend bei den wichtigsten Wahlindikatoren“. Demnach interessieren sich in Deutschland aktuell 70 Prozent der Befragten für die bevorstehende Europawahl – 2019 seien es nur 57 Prozent gewesen. Mehr als drei Viertel gaben an, „dass das Handeln der EU Auswirkungen auf ihr tägliches Leben hat“. Das steht in gewissem Widerspruch zu einer kurz vor Ostern veröffentlichten Umfrage, wonach zumindest in Nordrhein-Westfalen nur 41 Prozent den Wahltermin kannten.
2019 waren neben den Politikern von Grünen, SPD, Linkspartei und CDU auch mehrere Vertreter kleiner Parteien ins Europaparlament gekommen. Das war möglich, weil es bei der Europawahl anders als bei der Bundes- oder Landtagswahl keine 5-Prozent-Eingangshürde gibt – bei Piratenpartei, Familien-Partei und Volt reichten schon jeweils 0,7 Prozent für eines der 96 deutschen Mandate. Der Bundestag hat zwar 2023 beschlossen, wieder eine sogenannte „Sperrklausel“ einzuführen, die zwei Prozent beträgt. Gelten könnte sie jedoch erst bei der Europawahl 2029.
Die gegenwärtig dienstälteste Berliner EU-Parlamentarierin wird nicht mehr wie zuletzt 2019 für die Linkspartei auf dem Stimmzettel stehen: Martina Michels, im Dezember 68 geworden, war über 20 Jahre lang Mitglied im Abgeordnetenhaus und zeitweilig dessen Vizepräsidentin, bevor sie 2013 ins Europaparlament rückte.
Eine echte Premiere wird die Wahl am 9. Juni für die 16- und 17-Jährigen: Erstmals überhaupt dürfen Jugendliche zur Abstimmung gehen. Große Auswirkungen auf das Ergebnis wird das nicht haben, ihr Anteil an den Wählerstimmen beträgt im Bundesdurchschnitt nur rund 2 Prozent. Stimmen sie ab wie die ihnen am nächsten liegende Alterskohorte der 18- bis 24-Jährigen dürften die Grünen etwas von den neuen Wählern profitieren. Bei der letzten EU-Wahl votierten knapp 35 Prozent dieser damals jüngsten Wählergruppe für die Ökopartei. Allerdings war 2019 auch das Jahr von Fridays for Future und globalen Klimastreiks. Dass die Klimakrise wieder ein Faktor bei der EU-Wahl wird, ist bisher nicht erkennbar.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation