Europäische Flüchtlingspolitik: Das Calais-Syndrom
Gibt es in Calais nur xenophobe Wutbürger? Nicht alle Einwohner sind einverstanden mit dem Bild, das von ihnen gezeichnet wird.
Viele Menschen hier haben es satt, dass ihre Stadt zur permanenten Kulisse eines so unmenschlichen wie gefährlichen Flüchtlingsdramas geworden ist. Großbritannien, das vermeintlich gelobte Land, dessen Küste an manchen Tagen mit bloßem Auge erkennbar ist, wird immer unerreichbarer, jedes Jahr sterben Migranten beim Versuch unerkannt per Fähre oder durch den Kanaltunnel trotzdem dorthin zu gelangen.
Dass der Jungle dabei stetig wächst, macht vielen Bewohnern von Calais Sorgen, so wie der Marktfrau, die an diesem Samstagmorgen auf der Placed’Armes im Zentrum ihr Obst anbietet und anonym bleiben will. Das Thema ist beladen in Calais, nachdem die Stadt in den Fokus der Identitären rückte und sich vor Ort zwei migrantenfeindliche Gruppen bildeten: die rechtsextremen Sauvons Calais (Retten wir Calais) und die selbsterklärt „apolitischen“ Calaisiens en Colère (Wütende Calaiser), deren gelegentliche Demonstrationen an Pegida erinnern.
Die Marktfrau ist keine wütende Calaiserin, erst recht keine Identitäre. Sie ist eine Mutter, die sich Sorgen macht, wenn sie Geschichten aus dem Jungle hört: dass es dort Kämpfe gab zwischen Bewohnern, dass Migranten Lkws durch nächtliche Autobahnblockaden zu stoppen versuchen. Passiert sei ihr zwar noch nie etwas, doch die Stadt habe sich sehr verändert. Wobei: „Das Ganze ist auch übertrieben durch die Medien. Calais hier, Calais da, das ist eine Psychose!“
Die Art, wie sich das Flüchtlingsthema in der Stadt bemerkbar macht, hat sich durchaus gewandelt. Jahrelang war es in der Stadt nicht zu übersehen, etwa wenn Migranten in einem Hof zwischen Hafen und Leuchtturm zur Essensausgabe gingen, sich in leer stehenden Fabriken und Gebäuden niederließen, die irgendwann geräumt wurden, oder wenn sie in Ermangelung anderer Unterkünfte auf einer Grünfläche wild kampierten.
In der Stadt: kaum noch Flüchtlinge
Seit 2015 konzentrieren die Autoritäten alle Migranten im Jungle am Rand eines Industriegebiets, dessen chemischer Geruchscocktail berüchtigt ist. In der Stadt sieht man seither kaum noch einen Flüchtling. Dafür ist Calais vor dem Hintergrund der europäischen Flüchtlingskrise zum symbolischen Ort mit rasch steigendem Bedeutungsradius geworden.
Wenn vor einem Jahr die Calaisiens en Colère die „Marseillaise“ brüllend durch die Hauptstraße liefen und skandierten, dass Calais den Calaisern gehöre und die Grenze geschlossen werden müssten, dann war das erschreckend, blieb aber lokal begrenzt. Inzwischen überbieten sich französische Politiker mit Versprechen, den Jungle zu räumen und das Migrantendrama am Kanal zu beenden.
Was natürlich Unsinn ist. Denn just dies hat man schon öfter probiert in den letzten Jahren, worauf sich die Szenerie kurzfristig an andere Häfen verlagerte, nur um wenig später nach Calais zurückzukehren. Da die Grenzkontrollen dank der bilateralen Verträge zwischen Paris und London auf französischem Boden stattfinden, wurden folglich mit britischer Unterstützung die Kontrollen verschärft, die Zäune hochgezogen. Zur Zeit wird eine vier Meter hohe Mauer gebaut. In der Stadt weiß man trotzdem: Solange Calais der Großbritannien am nächsten gelegene Punkt des europäischen Festlands ist, werden Migranten von hier aus nach England zu gelangen versuchen.
Kein Wunder: Schon wer am Bahnhof ankommt, sieht gleich hinter den Gleisen den Giebel eines früheren Hotels mit der Reklameaufschrift English Spoken. Etwa stündlich verlässt eine Fähre den Hafen, hinüber in das Land, das man in Anspielung auf eine alte Feindschaft augenzwinkernd noch immer la perfide albion nennt. In Calais selbst kann man sich auf anglophilen Pfaden durch die Stadt essen und trinken, vom BistroL’Hovercraft über Le Liverpool hin zu Le Pub. Und in Cocquelles, einem Dorf beim Eingang zum Euro-Tunnel, laden Engländer den billigeren Wein des Kontinents palettenweise in die Kofferräume ihrer Autos.
Plötzlich politisch
Die neue symbolische Bedeutung ihrer Stadt stößt längst nicht nur auf Gegenliebe. „Ich finde absolut, dass Politiker wie Hollande oder Sarkozy unsere Stadt für ihren Wahlkampf missbrauchen“, sagt Céline Koche Roger. Sie ist in Calais aufgewachsen und lebt seit über 30 Jahren hier. Wie die Marktfrau ist auch sie eine zweifache Mutter, und besorgt – wenn auch in ganz anderem Sinn. „Als ich die Seite von Sauvons Calais auf Facebook sah, wachte ich auf. Vorher kümmerte ich mich nicht um Politik. Aber damals dachte ich, ich müsste etwas für meine Kinder tun, damit das nicht so weitergeht.“
Nach der Straßenblockade im September war der Zeitpunkt gekommen. Céline Koche Roger und einige Freunde ärgerten sich, dass wieder das Bild des xenophoben Calais in die Welt transportiert würde. Weil „alle Medien“ die „Wir sind es satt“- Parolen wiederholten. Also verfassten sie ihren eigenen Facebook-Appell an die Presse und posteten ihn mit dem pittoresken Foto eines Sonnenuntergangs am Strand.
„Liebe Medien“, heißt es dort, „Calais geht es gut, danke.“ Es folgt ein Aufruf, die Stadt und ihre Bewohner endlich nuancierter zu sehen. „In den Zeitungen bekommen wir den Eindruck, dass dies ein Kriegsgebiet sei. Manche Bewohner schreien immer lauter, und es gibt rassistische Äußerungen in sozialen Netzwerken. Ja, es gibt Probleme. Aber aus Calais eine Festung zu machen, ist keine Lösung.“
Simples Calaisiens nennt sich die kleine Gruppe, mit der Céline Koche Roger zum Gegenangriff bläst. „Wir sind nicht viele, aber wir denken, das Calais so nicht ist. Es ist keine großartige Stadt, aber eine gute.“ Sie noch besser zu machen, ist Céline Koche Roger ein Anliegen. Darum arbeitet sie mit Bekannten an einem Konzept für ein Gemeinschaftszentrum mit Café und Kochgelegenheit, Kultur- und Informationsveranstaltungen, in dem alle willkommen sind.
„Es ist ein Problem der Welt oder Europas“
Auch das Café La Timbale ist von diesem Geist gezeichnet. Und auch dort hat man einen etwas weiteren Blick auf das Thema Transit-Migration: „Ich glaube nicht, dass es sich um ein Problem von Calais handelt“, sagt Victor Lay, der Barkeeper. „Es ist ein Problem der Welt oder Europas. Nur ist es eben so, dass Calais einfach nah an England liegt.“ Victor Lay ist 23 Jahre alt und hat sein ganzes bisheriges Leben in Calais verbracht. Mehr als die Hälfte davon haben die Transit-Migranten den Diskurs in der Stadt geprägt und das Bild nach außen. „Die französischen Medien transportieren das Klischee von den rassistischenCalaisiens“,sagt Victor. „Aber das ist nicht alles.“
Als Kind seiner Stadt weiß der Barkeeper auch um den Kontext, in dem bei manchen seiner Mitbürger Xenophobie gedeiht. Die einst legendäre Spitzenindustrie ging den Bach herunter, die Fabriken schlossen, viele Menschen verloren ihre Arbeit. Die eigene Armut begünstigt das Gefühl der Benachteiligung; das sich gleichwohl nur so lange hält, bis man die Verhältnisse im Jungle mit eigenen Augen gesehen hat. Genau das aber haben die meisten Menschen in Calais noch nie.
Victor Lay ist eine Ausnahme. Als Bassist des Calaiser Jazz-Trios De Saturne ist er dort sogar schon aufgetreten: „Wir haben dieses Jahr auf dem Festival in Glastonbury gespielt. Aber das Konzert im Jungle war unser Bestes jemals. Diese Gesichter im Publikum!“
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