Europäische Abschottungspolitik: Wettbewerb der menschenrechtlichen Unterbietung
Die Europäische Union könnte das Sterben im Mittelmeer stoppen – wenn sie denn wollte. Doch danach sieht es momentan nicht aus.
![Ein Seenotrettungsboot in einem Hafen in Italien Ein Seenotrettungsboot in einem Hafen in Italien](https://taz.de/picture/7435882/14/37306634-1.jpeg)
D ie Flucht von Afrika nach Europa müsste nicht gefährlich sein. Es gibt Flugzeuge und Fähren, und dennoch war auch dieses Jahr voll von Meldungen über Geflüchtete in Seenot. Eine der jüngsten Tragödien ereignete sich am 19. Dezember vor der marokkanischen Küste. Mindestens 69 Menschen ertranken bei dem Versuch, die zu Spanien gehörenden Kanarischen Inseln zu erreichen.
In Afrika zählt das Missing Migrants Project der Internationalen Organisation für Migration 16.428 Menschen, die seit 2014 vermisst werden. Bei der Überquerung des Mittelmeers wurden seit 2014 31.178 als tot oder vermisst gemeldet. Die Nichtregierungsorganisation SOS Humanity beklagt allein für dieses Jahr bis Mitte Dezember hierbei über 1.600 Tote.
Wie viele Migrant*innen auf dem Meer gestorben sind, lässt sich nicht abschließend erfassen. Sicher ist: Jeder Tote ist einer zu viel. Hinter jeder Person, die sich auf ein Boot wagte und verunglückte, stehen Träume von einem besseren Leben, die nun niemals Wirklichkeit werden. Familien, die um ihre Kinder trauern. Geliebte, die ihre Partner*innen niemals wiedersehen werden. Kinder, deren Eltern nie zu ihnen zurückkehren werden. Freund*innen, die weiter nach ihren Liebsten suchen werden, weil doch noch die Hoffnung da ist, die Verschwundenen lebend wiederzufinden.
Niemand müsste auf seeuntauglichen Booten das Mittelmeer oder den Atlantik überqueren, wenn die Europäische Union eine menschenrechtskonforme Migrationspolitik umsetzte. Weil legale Routen geschlossen sind und die weniger gefährlichen abgeriegelt, bleibt den Flüchtenden nichts anderes übrig, als immer größere Risiken in Kauf zu nehmen. Etwa, die Route über den Atlantik zu den Kanarischen Inseln einzuschlagen.
Konzept, um das Sterben zu beenden, gibt es längst
Für die Seenotrettung auf dem Mittelmeer haben NGOs pünktlich zum Start der neuen EU-Kommission ein Konzept vorgelegt. Statt Meeresüberwachung durch die Grenzschutzagentur Frontex soll das bereits bestehende EU-Zentrum für die Koordination von Notfallmaßnahmen für die europäische Seenotrettung zuständig sein. Die Mitgliedstaaten würden Ausrüstung und nichtpolizeiliches Personal aus ihren Katastrophenschutzeinrichtungen bereitstellen. Menschen vorm Ertrinken zu retten wäre der ausschließliche Zweck der Mission, mit Grenzschutz hätte sie nichts zu tun. Laut den NGOs kostete das etwa ein Viertel des Frontex-Budgets.
Dass ein klares Aufgabenprofil das Sterben im Mittelmeer massiv reduzieren kann, bewies die italienische Mission „Mare Nostrum“. Doch nach nur einem Jahr wurde das Programm 2014 eingestellt, nachdem die europäischen Nachbarn weder mitzahlen noch sich an einer solidarischen Verteilung der zahlreichen Geretteten beteiligen wollten.
Stattdessen riskieren zivile Seenotretter*innen juristische Verfolgung, wenn sie Migrant*innen an Bord nehmen, während Frontex dabei unterstützt, dass Menschen von der libyschen Küstenwache zurück nach Libyen gebracht werden. Was sie dort erwartet, bleibt nur eine Nebensächlichkeit. Und als Kommissarin für den Mittelmeerraum – der Posten wurde erstmals vergeben – ist nun die nationalkoservative Dubravka Šuica zuständig. Der Wettbewerb der menschenrechtlichen Unterbietung wird wohl weitergehen. Die Europäische Union könnte ihn beenden – wenn sie nur wollte.
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