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Europa endet in Terespol

Polen macht die Ostgrenze dicht – Russen und Weißrussen kommen nicht mehr hinein. Die Maßnahme, mit der sich Polen der EU empfehlen will, würgt den Handel ab  ■ Aus Warschau Gabriele Lesser

Sechs Uhr früh in Warschau. Straßenbahnen rumpeln über die Poniatowski- Brücke. Aus dem Morgennebel taucht das „Stadion des Jahrzehnts“ auf, am „Plac Waszyntona“ steigen fast alle Fahrgäste aus. Hier liegt der Russenmarkt von Warschau – der größte Basar Europas.

Bereits in der Unterführung wird gehandelt. Ein Sexshop wirbt mit dem Schild „Neue Ware eingetroffen, russisch, billig“. Daneben preist ein Bioladen einen wundertätigen Schlankheitstrunk an. Und auf der Treppe zur „goldenen Allee“ des Stadions spielt ein Roma- Kind Akkordeon. Auf dem Boden steht ein brauner Plastikbecher mit ein paar Münzen.

Die „goldene Allee“ führt die direkt in das Stadion und hinauf in die „Krone“ zu den ehemals obersten Sitzreihen. Sie ist gesäumt von Händlern, die Lederjacken feilbieten, auch Seidenschals, Markensportschuhe, hochwertigen Kaffee, Abendkleider und Pelzmäntel. Richtig bunt wird es erst im Stadion selbst. „Die Russen“ sitzen ganz oben. An die Stelle der Babuschkas, die noch vor Jahren hier selbstgestrickte Pullover und heimischen Honig verkauften, sind längst schon die „Billigheimer“ getreten: sie handeln mit CDs und Videos, mit Computerspielen, Pässen, Schmuck, Ikonen und Waffen. Sie kommen zum Teil von weither, aus Aserbaidschan und Armenien, aus den baltischen Republiken, aus Bulgarien, der Ukraine und Weißrußland. Die meisten „Kronen- Händler“ aber kommen nach wie vor aus Moskau, St. Petersburg und Kaliningrad.

Seit Anfang Januar stagniert das Geschäft im Stadion. Viele Stände sind verwaist. „Die Polen haben die Grenze zugemacht!“ empört sich Jurij Wassiljew aus Smolensk. „Ich bin noch mit einer alten Einladung reingekommen, aber die anderen mußten an der Grenze umkehren.“

Wassiljew verkauft Miniradios und -fernseher aus Fernost. „Früher konnten wir an der Grenze Vouchers mit Hotelreservierung kaufen. Das hat ein paar Rubel gekostet. Und damit waren wir drin. Oder wir hatten eine Einladung von Bekannten oder Freunden. Natürlich waren die Papiere oft gefälscht, aber das hat eigentlich niemanden groß interessiert. Jetzt kostet der Voucher für Polen mindestens 20 Dollar. Das ist sozusagen der neue Tagessatz für Unterkunft und Verpflegung.“

Beim Gedanken an das viele Geld tastet der 36jährige nach seinen Brieftaschen. Alles da. Er grinst, nimmt eine Prise Schnupftabak, zieht das scharfe Zeug durch die Nase und schnaubt: „Angeblich ist das demokratischer. Dabei geht's denen nur ums Geld. Die kleinen Händler kommen jetzt nicht mehr. Für die ist die Reise zu teuer.“

Ein schrilles Fiepen unterbricht das Gespräch. Wassiljew fischt ein Handy aus der Knietasche, bestätigt den Auftrag: „Da, da, charascho“ (ja, ja, gut) und verschwindet im Gedränge. Auf seinen Stand paßt solange sein Geschäftspartner Ilja Pankow auf.

Die Diplomaten in der russsischen Botschaft in Warschau ärgern sich auch über den Überraschungscoup der polnischen Regierung. Ständig klingelt das Telefon. Journalisten, Händler, Touristen, Politiker – alle wollen wissen: Was ist los an der polnischen Ostgrenze? Warum werden russische und weißrussische Reisende zu Hunderten zurückgeschickt? Warum wissen die Grenzbeamten nichts von den neuen polnischen Vorschriften? Warum steht nichts in den Zeitungen?

Aber Rußlands diplomatische Vertreter weisen zugleich alle Schuld von sich. In einem Pressecommuniqué heißt es: „Die gespannte Situation an den polnischen Grenzübergängen ist unserer Meinung nach die Folge fehlender Aufklärung und Information.“ Zwar habe die Botschaft Mitte November ein Schreiben vom polnischen Außenministerium erhalten, in dem zum 27.Dezember ein neues Ausländergesetz angekündigt wurde. Zugleich aber sei auf ein weiteres Schreiben verwiesen worden, mit dem die Ausführungsbestimmungen erläutert werden sollten. „Leider haben wir diese Note erst am 8. Januar 1998 erhalten. Im Abkommen über den visafreien Reiseverkehr zwischen der Sowjetunion und der Volksrepublik Polen von 1979 wurde aber vereinbart, daß bei Änderungen im Reiseverkehr die jeweils andere Seite mindestens 30 Tage vorab zu informieren ist“, sagt ein Mitarbieter der Botschaft. Die Vertretung warte auf eine Erklärung vom polnischen Außenministerium.

Die polnischen Zöllner warten nicht. In Terespol, an der Grenze zu Weißrußland, holen sie russische und weißrussische Passagiere zu Hunderten aus den Zügen. Kaum ein Reisender weiß, daß er zum Grenzübertritt andere Dokumente als bisher benötigt. „Das ist die Elementarverteidigung gegen lästige Nachbarn“, kommentiert der Chef des Zollamtes im weißrussischen Brest die neuen Bestimmungen. Am liebsten würden die Beamten nun für die Polen dieselben Bestimmungen einführen, doch die Signale aus der weißrussischen Hauptstadt Minsk sind andere: „Wir möchten unsere Politik nicht nach dem Prinzip ,Auge um Auge, Zahn um Zahn‘ führen“, erläutert Nikolaj Buzo, der stellvertretende Außenminister Weißrußlands.

Auf einer Pressekonferenz des polnischen Außenministeriums geht es hoch her. Die Korrespondeten Rußlands und Weißrußlands fragen irritiert und gereizt: „Was kostet denn nun die Einreise nach Polen? Warum müssen nur Russen und Weißrussen das Eintrittsgeld zahlen? Was sollen die Schikanen an der Grenze?“ Pawel Dobrowolski, Pressesprecher des polnischen Außenministeriums, entschuldigt sich mit keinem Wort für die mangelhafte Information. Im Gegenteil: Schuld an dem allgemeinen Chaos, so Dobrowolski, seien die russischen und weißrussischen Diplomaten, die die Information über das verschärfte Ausländerrecht ignoriert hätten.

Das polnische Außeministerium habe bereits am 18. November auf das verschärfte Ausländerrecht hingewiesen. Damals hätten sich aber nur die Botschaften der Schengen-Staaten für das neue Recht interessiert. „Wir haben alles getan, was zu tun ist. Es ist die Aufgabe der Botschaften, sich um weitere Informationen zu bemühen.“ Daß das Ministerium erst am 31. Dezember den Brief mit den praktischen Auswirkungen des neuen Gesetzes verschickt hat, erwähnt Dobrowolski nicht.

Jurij Wassiljew schleppt eine riesige blaugestreifte Plastiktasche durch die engen Gassen des Stadions. Er hat Herrenpullover und Hemden eingekauft. Ilja Pankow läuft mit einem Stapel Kartons hinter ihm her. „Italienische Schuhe“, erläutert er kurz.

Sie laden alles in einen Kleinlaster und ziehen wieder los. „Ich brauche noch zwanzig Herrenanzüge. Früher habe ich Smokings verkauft, bordeauxrot und beige, aber das will heute niemand mehr. Die Neureichen wollen nicht mehr aussehen wie Neureiche.“ Am Nachmittag ist er mit zwei Polen im Gericht verabredet. „Ich trete in eine Genossenschaft ein. Als ,biznesmen‘ habe ich keine Probleme an der Grenze. Ich habe ein Dauervisum und bin sozusagen ,dienstlich‘ unterwegs. Man muß eben kombinieren. Es findet sich immer ein Weg.“ Er schließt den Wagen ab und verschwindet wieder in der Menge.

Es ist kurz vor zehn Uhr. Die Großhändler verlassen den Markt. „Noch kann man nicht sagen, ob sich das Gesetz negativ auf den Osthandel auswirken wird“, erklärt Ryszard Rybakiewicz, Chef und Organisator des Marktes im Warschauer Stadion. „Im Januar ist es hier immer ruhig. Weihnachten, Neujahr, dann wieder orthodoxes Weihnachten. Erst Mitte Februar kann man Genaueres sagen.“

Der Busparkplatz ist fast leer. Hier stehen sonst bis zu 70 Busse aus Kaliningrad, Minsk, Wilna, Lemberg und anderen Städten Osteurpopas. Maria Kowalczyk reicht eine Schale dampfender Erbsensuppe aus ihrer Holzbude. „Vielleicht noch ein Würstchen?“ Doch die Gäste lehnen freundlich ab: „Njet. Spasiba.“

Seit sechs Jahren verköstigt Maria Kowalczyk nun schon die Händler und Käufer auf dem Warschauer Stadion, doch eine solche Flaute hat sie noch nicht erlebt. „Wenn das so weitergeht, mache ich pleite. Was denken sich die Politiker eigentlich? Die machen die Grenze zu für die Russen, und wovon soll ich leben? Statt 200 Portionen verkaufe ich gerade mal 20!“ Wütend wischt sie die zwei Tische vor ihrer Bude ab. „Meinen Nachbarn gehts genauso. Herr Adam hat gestern ganze sieben Hähnchen verkauft. Sieben! Und wie der Vietnamese überlebt, weiß ich auch nicht. Die Polen essen doch nichts bei uns. Die bringen sich alle belegte Brote mit.“

Die resolute 52jährige schlägt sich die Handkante ans Kinn. „Bis hierhin habe ich die Politiker! Reden großartig von Europa! Von einer besseren Zukunft! Und was ist heute? Meine Mutter wohnt in Goldap. Das ist direkt an der Grenze. Da leben alle von den Russen. Sie vermietet Zimmer unter. Die Rente reicht doch hinten und vorne nicht. Sie hat immer Einladungen rübergeschickt. Und jetzt? Jetzt soll sie im Bezirksamt nachweisen, daß sie sich den Besuch der Russen ,leisten‘ kann! Sonst darf sie niemanden mehr einladen. Wie soll das denn gehen? Bei einer Rente von 400 Zloty (rund 200 Mark) kann sie sich doch keinen Besuch ,leisten‘. Sie braucht ihn.“

Von der „Krone“ kommen immer mehr Menschen. Maria Kowalczyk verschwindet wieder hinter ihren Kochtöpfen. Vielleicht kommen ja doch noch ein paar Kunden.

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