Euphorie in Belgien vor dem Viertelfinale: Ein Land mit Hörnern
Die Roten Teufel sorgen für einen kollektiven Taumel. Sogar separatistische Flamen jubeln, wenn das Team von Marc Wilmots siegt.
![](https://taz.de/picture/102665/14/Belgien040714dpa.jpg)
Hat man so was schon gesehen? Eine Polonaise in der Straßenbahn, die normalerweise die Urlauber an der belgischen Küste herumfährt? Letzten Dienstag aber, nach dem 2:1 der Roten Teufel gegen die USA, zogen die Bewohner der Dünendörfer die Blicke der Touristen auf sich. Vom Public Viewing auf der Rennbahn von Ostende kommend, tanzten sie durch die engen Waggons, in einer eigenartigen Mischung aus Euphorie und Schüchternheit. Wer aufmerksam hinschaute, konnte merken, dass sie nicht viel Erfahrung mit derlei Anlässen haben.
Vieles ist neu in diesen Tagen in Belgien, das sich in einer nie gesehenen Weise selbst feiert. Die Regeln des Alltags werden ausgehebelt durch den Teufelswahnsinn. Büros und Geschäfte schließen früher, wenn ein Match ansteht, bei „Rock Werchter“, einem der größten Musikfestivals des Landes, wird wegen des Viertelfinalspiels gegen Argentinien gar die Running Order verändert. Und allenthalben sieht man eine neue Fahne, die es eigentlich gar nicht gibt: Sie sieht aus wie die brasilianische, nur ist sie schwarz, gelb und rot statt gelb, grün und blau.
Lange wusste man bei dieser WM nicht, wo dieses belgische Team eigentlich steht, das von Experten und Medien zuvor mit allerlei Superlativen bedacht wurde, zumindest aber als Geheimfavorit galt. Statt des versprochenen aufregendsten neuen Dings des Weltfußballs arbeitssiegte man sich durch die Vorrunde. Auch das Achtelfinale wich nicht ab vom Muster der Roten Teufel, konsequent nur dieses eine Tor mehr als der Gegner zu schießen. Hinter diesem vermeintlichen Minimalismus aber zeigt sich eine deutliche Steigerung: Erst stellten die Belgier das Weiterkommen sicher, dann besiegte ihr B-Team zu zehnt Südkorea, bevor die Stammkräfte übernahmen und gegen die USA endlich zu begeistern wussten.
Es scheint also, dass Belgien genau zum richtigen Zeitpunkt in Schwung gekommen ist. Entsprechend zuversichtlich ist man im Teamquartier, dem Paradise Golf & Lake Resort in Mogi das Cruzes. „Sie sind die Favoriten, aber das kann unser Vorteil sein. Wir gehen von unserer eigenen Stärke aus“, so Verteidiger Jan Vertonghen. Und Axel Witsel, der es im Mittelfeld mit Lionel Messi zu tun bekommen wird, sagte: „Sie haben natürlich Topspieler, aber die haben wir auch. Auf diesem Podium gegen Messi zu spielen ist ein Traum, der Wirklichkeit wird.“
Teuflische Intiativen
Unterdessen übertrifft man sich in Belgien an teuflischen Initiativen. Im populären Radio1 werden Dance-Stücke remixt und den Stürmern Divock Origi und Romelu Lukaku gewidmet. Supermärkte haben mit dem Verkauf von Getränken, Snacks, Süßigkeiten oder Fanartikeln bereits 30 Millionen Euro umgesetzt, so die Tageszeitung De Morgen. „Und je weiter wir kommen, desto verrückter werden wir alle, und umso größer dann auch der Gewinn.“ De Morgen, wohlgemerkt, ist eines der anerkannten Qualitätsblätter des Landes. Wenn dieses renommierte Organ sich dergestalt äußert, überrascht es dann noch, dass man in Belgien zurzeit jeden Tinnef verkaufen kann, solange man ihm zwei Teufelshörner aufsetzt?
Nicht einmal die übliche Krisenstimmung, weil die längst fällige Bildung einer Regierung wieder einmal in die Verlängerung geht, herrscht derzeit in Belgien. Fast scheint es, als interessierte die Frage nach dem neuen Ministerpräsidenten wenig, solange Marc Wilmots Bondscoach ist. Die Politik wiederum beschäftigt sich ihrerseits mit dem Auswahlteam: Ende Juni empfingen die Abgeordneten der flämisch-nationalistischen Partei N-VA eine Mail der Parteiführung. Darin wurde ihnen zugestanden, die Leistungen des Teams positiv zu bewerten und gegenüber den Medien zu sagen, die Roten Teufel seien „auf einem guten Weg“.
Mariam Al Merrouni, eine Sprecherin der N-VA, bestätigte, innerhalb der Partei dürften alle ihre eigene Meinung zu diesem Thema haben. Während sich N-VA- Anhänger an dem „Belgien- Getue“ störten, sei im N-VA- Hauptquartier auch schon ein rotes Trikot gesichtet worden, so Mariam Al Merrouni zur taz. Die Parteisprecherin selbst wird am Samstagabend auch zu einem Public Viewing gehen – ihres mitfiebernden Sohnes wegen. Nur Teufels-Accessoires, die doch eher die belgische Einheit symbolisieren, wird sie dabei keine tragen.
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