Etwas ist geschehen
Spuren der Veränderung verbinden die Zeichnungen von Tony Cragg mit seinen Skulpturen in einer Ausstellung im Haus am Waldsee. Seine Leiterin, Katja Blomberg, nimmt nach 16 Jahren erfolgreicher Tätigkeit vorzeitig Abschied
Von Katrin Bettina Müller
1991 war der britische Bildhauer Tony Cragg schon ein international bekannter Künstler, Professor an der Kunstakademie Düsseldorf, der auf den Biennalen von Venedig und Sidney und auf der documenta in Kassel ausgestellt und in England den Turner-Preis erhalten hatte. Aus diesem Jahr stammt eine Serie von Radierungen, „The First Era“, in der Flammen über den dunklen Grund tanzen, die Luft über Öfen und Hämmern vor Hitze vibriert und glühendes Metall aus Kellen läuft. Elementare Kräfte sind am Werk in diesen dunklen Grafiken, die jetzt im Obergeschoss des Hauses am Waldsee zu sehen sind.
In der Ausstellung „Drawing as Continuum“, die neben kleineren Skulpturen des Bildhauers 200 grafische Blätter vorstellt, ist eine solche Konkretion, ein direkter Blick auf die handwerklichen Prozesse, zwar eine Ausnahme, aber die Radierungen stimmen gut ein auf die Begegnung mit einem Künstler, für den die Eigenschaften des Materials, die Prozesse der Herstellung immer Teil dessen sind, was seine Werke thematisieren. In einer blassen Bleistiftzeichnung sitzt ein Paar auf einem Sofa, vor sich ein Tisch mit Schüsseln. Über das ganze Blatt sind Linien gezogen, kleine Wirbel streuseln darüber. Man sieht einen stillen und intimen Moment und zugleich den Versuch, die Energie zu erfassen, die in jedem lebenden Wesen, in jedem gemachten Ding vorhanden ist. Tony Craggs Zeichnungen und seine Skulpturen verbindet, dass sie das Dynamische und Kraftvolle, das in jedem Moment in jeder Zelle, in physikalischen und in chemischen Prozessen, in jedem kleinsten Partikel am Werk ist, in die Darstellung mit hineinzunehmen.
Da gibt es Zeichnungen von Feldern aus konzentrischen Ringen, die sich bedrängen und verformen. Manchmal umfassen dicke Striche den Außenrand eines Volumens, in dessen Innerem es brodelt, als seien unterschiedlich rotierende expansive Kräfte am Werk, die nach außen drücken und die Ränder verschieben. Es macht Sinn, davor eine Skulptur wie „Hollow Head“ (von 2013) zu platzieren, die wie eine gesprungene Hülle wirkt, eine zerrissene Haut. Die Formen sind abstrakt und zugleich anthropomorph, man kann sich in die Vorwölbungen eine Kinnpartie, Lippen, Nase und Augenhöhle denken: So entsteht ein Profil, und das nicht nur aus einer Perspektive, sondern von allen Seiten aus.
Tony Craggs Bronzen haben eine fast seidenglatte Haut, beim „Hollow Head“ schimmert sie braungrün-bronzefarben. Es ist aus dem Material meist alles Rohe und Raue getilgt, obwohl ihre Formen von gewaltigen Kräften sprechen. Diese äußere Perfektion und das Monumentale vieler Skulpturen, die Ähnlichkeit vieler Formen lassen Craggs Arbeiten manchmal auch sehr routiniert erscheinen. Die Ausstellung im Haus am Waldsee erlaubt aber durch das Zusammenspiel von kleineren Skulpturen und Grafiken, ihre Schönheit wiederzuentdecken.
In „Scribe“ (2009) ist etwas sehr Zähflüssiges zu einer dichten, borkigen Masse erstarrt, etwas Waldiges und Verstecktes nistet hier in dunkler Schwere. Wieder passt es, dass diese Skulptur von Zeichnungen umgeben ist, die an große Blätter erinnern oder an die Bewegungen eines Vogelschwarms, der sich ausdehnt oder zusammenzieht. Der Spur von etwas zu folgen, das da war und schon wieder vergangen ist, auch das findet man in Craggs Zeichnungen wie in den Skulpturen.
Eine Skulptur im Erdgeschoss, „In Frequenzies“, scheint auf Spitzen zu tanzen
Eine Skulptur im Erdgeschoss, „In Frequenzies“, scheint auf Spitzen zu tanzen, ein Auf und Ab geschichteter Masse. Mit der Zeichnung eines Tannenwaldes verbindet sie das Motiv der Wiederholung, des Echos, der Verschiebung. Etwas, das immer wieder geschieht, aber jedes Mal mit kleinen Veränderungen. Das erinnert an die Phasenverschiebungen in der Minimal Music, und vielleicht sollte man recht besehen „In Frequenzies“ auch als geronnene Musik betrachten.
Vor dem Haus am Waldsee steht als Leihgabe des Künstlers die große Skulptur „Venus“. Dass das Haus am Waldsee seinen Garten zu einem Skulpturenpark ausbauen konnte, geht auf die Initiative von Katja Blomberg zurück, seit 16 Jahren Direktorin des Hauses. In acht Monaten wäre ihr Vertrag ausgelaufen, aber am 20. September meldete das Haus, dass sie vorzeitig aufhört. Als Gründe werden Uneinigkeit zwischen ihr und dem Trägerverein vermutet, über die man mehr noch nicht weiß.
In ihren ersten Jahren wurde ihr manchmal vorgeworfen, auf internationale und schon bekannte Künstler zu setzen und sich weniger um eine Berliner Szene zu kümmern, die noch keinen Namen hat. Doch sie hat das Haus am Waldsee damit auch aus einer Phase navigiert, als das Fortbestehen wacklig aussah. Eine Würdigung ihrer Leistung am Ende der langen Jahre, die sie das Haus geleitet hat, steht noch aus.
Haus am Waldsee, Argentinische Allee 33, Di.–So. 11–18 Uhr, bis 9. Januar 2022