Ethnologe über die Stämme in Libyen: "Sie sind Politikprofis"
Welche Rolle haben die Stämme im Aufstand gespielt, welche könnten sie künftig spielen? Der Libyen-Kenner Thomas Hüsken über ihre Strukturen und den neuen Generationenkonflikt.
taz: Herr Hüsken, überall wird darüber spekuliert, welche Rolle die Stämme künftig spielen werden. Wer und was sind die libyschen Stämme?
Thomas Hüsken: Die Vorstellung von den Stämmen als miteinander verfeindete, atavistische Gemeinschaften, die mit Blut, Ehre, Scham, Schande verbunden ist, lässt sich vielleicht gut vermarkten. Mit der Realität hat sie nichts zu tun. Die Stammespolitiker sind erfahrene Lokalpolitiker und verfügen über entsprechendes Know-how. Begriffe wie Konsens, Stabilität und Interessenausgleich sind ihnen nicht fremd.
Die Stammespolitiker waren auch unter Gaddafi schon Lokalpolitiker?
Sicher. Gaddafi hat anfangs versucht, die Stämme zu verdrängen. Das ging aber schief. Der Deal war dann, dass die Stämme Gaddafi als Führer des Landes anerkennen und er ihnen dafür Spielräume auf lokaler und regionaler Ebene gewährte und sie die Ölrente verteilen ließ.
Wie relevant sind diese Lokalpolitiker?
Auf lokaler und regionaler Ebene sehr. Sie haben in den letzten sechs Monaten im Osten für rechtlich Stabilität gesorgt, eine friedliche Ordnung aufrechterhalten und Dienstleistungen wie Strom, Wasser gewährleistet. Das zeigt, dass das tribale System in Libyen funktioniert.
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Ethnologie der Uni Bayreuth, habilitiert über neue Formen beduinischer Politik und politische Kultur in Libyen und Ägypten, ist Autor diverser Bücher und war zu Beginn des Aufstands und im Juli in Libyen.
Was ist das tribale System?
Es gibt eine eigene Rechtsprechung, das Gewohnheitsrecht. Damit wird der Rechtsfrieden und die Konfliktbearbeitung geregelt. Charakteristisch für Libyen ist der Rechtspluralismus, also die Existenz zweier Rechtssysteme: Bestimmte Fälle werden von den Stämmen nach beduinischem, andere nach staatlichem Recht behandelt. Und dann gibt es die städtepolitischen Foren - Versammlungen, auf denen diskutiert wird und Entscheidungen möglichst im Konsens getroffen werden, innerhalb und zwischen den Stämmen. Derzeit wird etwa im Osten des Landes auf hunderten Versammlungen darüber diskutiert, wie der neue Staat heißen soll, arabische, islamische oder einfach nur Republik Libyen.
Wie groß ist das Spektrum politischer Ansichten innerhalb der Stämme?
Relativ groß. Es gibt Rechtsanwälte oder Ärzte, die im Ausland waren, die ein ganz anderes politisches Portfolio haben als Politiker, die vor allem der lokalen politischen Gemeinschaft verankert und viel konservativer sind. Aber es ist nicht so, dass zwischen den Stämmen polarisiert wird. So ein Stamm ist kein kollektiver Akteur mit autoritären Kommandostrukturen. Sie sind in sich politische vielstimmig. Ein zentraler kultureller Wert ist die Autonomie des beduinischen Mannes. Auf die legt selbst der kleinste Wicht großen Wert. Das bedeutet, dass die Führerschaft innerhalb der Stämme intensiv ausgehandelt wird.
Wie wird denn verhandelt? Sitzen die Stämme in Zelten und rauchen Friedenspfeifen?
Die können sich auch mal in einem Zelt treffen, auf dem Boden sitzen, eine Zigarette rauchen und Tee trinken. Obwohl sie keine Beduinen mehr sind, werden diese Traditionen gepflegt. Aber es handelt sich um Politikprofis. Lokalpolitiker treffen sich im Gäste- und Männerzimmer des beduinischen Hauses mit anderen politisch einflussreichen Figuren, besprechen die politische Lage und treffen Entscheidungen. Tribalität ist die libysche Form der Zivilgesellschaft.
Wie ist das Verhältnis der Stämme zum Staat?
Die Stammespolitiker sind nie gegen den Staat, sie wollen eine Partnerschaft, in der sie staatliche Ressourcen beanspruchen können in den Bereichen, die sie selbst nicht abdecken können, wie Gesundheit, Altersversorgung oder Bildung. Aber sie wollen in regionaler, lokaler Ebene möglichst viel Autonomie und nicht von einem autoritären Staat dominiert werden.
Manche Kommentatoren sprechen von einer vormodernen Gesellschaft. Wie würden sie die libysche Gesellschaft charakterisieren?
Es ist eine differenzierte Gesellschaft, in der Urbanität und Tribalität herrschen. Sie steht fraglos vor großen Herausforderungen, und das tribale Element kann eine ganz wichtige soziale und kulturelle Rolle in diesem Wandlungsprozess spielen. Demokratie und Tribalität widersprechen sich nicht. Das tribale System hat sich historisch als flexibel erwiesen, es ist nicht starr, sondern ständig in Bewegung. Dabei ist die Tribalität eine soziale Organisierung, die konservativer ist als unsere, etwa was ihre Vorstellungen über Geschlechtergerechtigkeit, Demokratie, Scharia oder den Islam betreffen. Damit stehen viele Stammespolitiker im Widerspruch zu den urbanen Gruppen, die in der Rebellion sichtbar geworden sind. Da gibt es durchaus Spannungen.
Welche?
Vor allem zwischen dem eher konservativen tribalen politischen Establishment, den urbanen Intellektuellen und der revolutionären Jugend, die einen großen Teil der Kämpfer stellt. Seit längerem zeichnet sich ein massiver Generationenkonflikt ab. Die jungen Leute wollen mehr Entscheidungsfreiheiten, mehr Teilhabemöglichkeiten.
Die Jugendlichen wollen das tribale System abschaffen?
Nein, sie sind auf den tribalen Hintergrund stolz. Das ist ihre Familie, ihre Identität. Aber tendenziell wollen sie aus diesem traditionellen System raus, neue Lebensformen und Lebensstile ausprobieren. Sie wollen, dass die Stämme weniger eine politische, sondern eher eine soziale Rolle spielen. Sie wollen, dass ihnen das tribale System sagt, wo sie herkommen, aber nicht, was sie zu tun haben. Doch derzeit versucht das Establishment der Stämme die Jugend und die Frauen von der politischen Organisierung herauszuhalten.
Viel wird über einen möglichen Stammeskrieg spekuliert. Was ist da dran?
Nichts. Statt der 140 Stämme, die da immer genannt werden, gibt es in Libyen etwa 30 bis 40 einflussreiche Großfamilien. Natürlich werden alle ihren Anteil haben wollen. Aber die Leute sind ja nicht blöd. Sie haben das Öl. Und diese Ölrente muss paritätisch aufgeteilt werden. Es wird sich kein Stamm aufschwingen und den alleinigen Führungsanspruch stellen. Das Ziel aller ist eine nationale Einheit in einem stark föderalen Gebilde. Mit Gewalt oder Bürgerkrieg können die Stammespolitiker derzeit keine politischen Gewinne machen. Zumal die kämpfenden jungen Leute multitribale Gruppen sind. Es gibt nur wenige reine Stammesmilizen.
Der Mord an dem übergelaufenen früheren Gaddafi-Gefolgsmann Abdel Fattah Junis war kein Fanal für Stammesfehden?
Nein, Junis war ein autoritärer Mann mit Blut an den Händen. Es gab von Beginn an Unmut über ihn, vor allem unter den jungen Kämpfern. Dieser Mord ist nicht repräsentativ für den Umgang der Rebellen mit den kommenden Problemen.
Trotzdem wird es doch Rachegelüste geben, gerade gegen den Gaddafi-Clan, seinen Stamm?
Ja sicher, auch in den Revolutionen in Osteuropa vor 20 Jahren hat es politische Racheakte gegeben. Aber ich glaube nicht, dass es eskalieren wird. Sicher wird Gaddafis Stamm in den nächsten Jahren den Ball flach halten müssen. Libyen ist nicht Somalia. Dort hat der lange Krieg nicht nur den Staat, sondern auch die tribale Struktur zerstört. Das ist in Libyen nicht der Fall. Selbstverständlich kann noch jemand versuchen, eine ethnische Karte zu spielen. Aber es hat in Libyen auch vor der italienischen Besatzung und danach keine Stammeskriege gegeben. Das System ist innovativ, kreativ und fähig, Lösungen zu finden.
In dem Verfassungsentwurf der Übergangsregierung steht, dass der Tribalismus künftig bekämpft werden wird. Reagieren die Stämme da nicht skeptisch?
Nein. Überall auf dem Revolutionsplatz in Bengasi sind Schilder zu sehen, auf denen "Nein zum Tribalismus" steht. Es handelt sich dabei um ein Signal an das Ausland, dass es hier nicht um Stammeskrieger geht. Es ist gleichzeitig ein Appell an die Stammesgruppen, friedlich die Probleme auszuhandeln.
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